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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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struppigen Kopf schüttelt; seine fleischigen Wangen schwabbeln, und ein mahnendes Tremolo stiehlt sich in seine Stimme, um zu unterstreichen, wie düster und hoffnungslos alles sein kann   … aber Ailie hört ihm nicht zu. Sieht auch gar nicht hin. Ihr Kopf ist gesenkt wie zum Gebet, ihre Gedanken sind jedoch woanders. Genau genommen sind sie bei Georgie Gleg – und bei der Reise, dem Ausflug, dem
Abenteuer
, auf das sie sich einlassen will. Noch heute nachmittag. Alles ist vorbereitet, ihre Taschen sind gepackt. Sie kann an nichts anderes mehr denken.
    Georgie hat sie eingeladen, ihn auf eine sechswöchige Tour durch die Highlands zu begleiten, eine Reise nach Fife, Angus, Aberdeen, Banff und Moray, deren Höhepunkt eine Woche im Avis House bei Drumnadrochit sein würde, in Sichtweite von Urquhart Castle und einem dertiefen, brodelnden Lochs, das jedes Schulmädchen aus Liedern und Legenden so gut kannte, dem allergrößten überhaupt: Loch Ness. Avis House, der alte Familiensitz der Hochland-Glegs, wurde gegenwärtig von Georgies Cousine zweiten Grades bewohnt. Fiona Gleg, eine alte Jungfer von Anfang Fünfzig, war vor kurzem in Edinburgh gewesen, wo Georgie sie wegen Periproktitis und Gicht behandelt hatte; zum Dank hatte sie ihn eingeladen, sie zu besuchen und «die Wunder vom großen alten Loch Ness zu schauen». Georgie dachte sofort an Ailie. So eine Reise würde ihr bestimmt Spaß machen, würde ihr erlauben, ausnahmsweise einmal etwas für sich selbst zu tun, ihr eine Zeitlang die Bürde der geduldigen Gattin, Mutter und Hausfrau von den Schultern nehmen. Es wäre genau das richtige für sie.
    Allerdings. Nie im Leben ist sie weiter gereist als bis Edinburgh, und auch da war sie bloß zweimal. Sie war nie in London, auf dem Festland, nicht einmal in Glasgow ist sie gewesen. Mungo packt einfach seine Sachen, nimmt ihren Bruder am Arm und stromert um die halbe Welt. So oft er will. Und sie hockt mit den Kindern zu Hause wie das Aschenbrödel. Also gut, hier ist ihre Chance, und der Himmel weiß, sie wird sie nutzen.
    Natürlich wird alles ganz gesittet zugehen. Sowohl Georgies Mutter als auch Betty Deatcher sind als Anstandsdamen dabei, und sie hat beschlossen, auch ihren fünfjährigen Sohn mitzunehmen. Es wird kein Getändel geben, nichts Skandalumwittertes. Trotzdem ist ihr Vater strikt gegen diese Reise. Er sieht darin einen Affront gegen ihren Mann, Anstandsdamen hin oder her. «Und was ist, wenn er nun heimkommt, während du fort bist, Mädel – was soll ich ihm dann bloß sagen?» hatte der alte Mann gefragt, ganz heiser vor Wut und mit scharfem, anklagendem Unterton.
    «Sag ihm, ich bin in der zweiten Aprilwoche wieder zurück.»
    «Aber Ailie, das kannst du dem Jungen nicht antun – er ist doch dein Mann!» In der persönlichen Heiligenhierarchie ihres Vaters rangierte Mungo ganz oben neben Sankt Columban und dem Schönen Prinzen Charlie.
    Ihre Augen weiteten sich, bis sie zornige grüne Seen waren, kalt und glitzernd wie der Firth of Forth, und ihre Stimme bebte in mühsamer Beherrschung. «Er hat’s mir ja auch angetan.»
    Nun sitzt sie neben ihrem Vater auf der langen harten Bank, ihr Atem geht rauh und rechtschaffen, die Kinder zappeln, und sie kann nur an Befreiung, an Flucht denken – daran, wie sie MacNibbits Pech und Schwefel den Rücken kehren und in Georgies Kutsche steigen wird. Durch das Buntglas über ihr flutet die Sonne strahlend und hell wie Blut, und es scheint in demselben raschen, atemlosen Rhythmus zu pulsieren, der in ihren Venen pocht. Die Highlands! Inverness! Loch Ness! Sie kann sich kaum beherrschen, will am liebsten aufspringen und durch den Raum tanzen, ihr Glück hinausschreien. Plötzlich dringen die Worte des Pfarrers an ihr Ohr, sie klingen erfrischend, belebend, ein tiefer Atemzug in der Lunge einer Ertrinkenden. «Gutes», ruft er voll Ehrfurcht und Entzücken, das schöne Wort schmilzt auf seiner Zunge wie ein dicker Klumpen Butter, «Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang   …»
    Ailie sieht auf, als gälte die Verheißung nur ihr allein, als wäre sie ein Segen zum Abschied, ein Zeichen, daß sie die rechte Wahl getroffen hat. Die Predigt ist zu Ende, die Gemeinde rutscht auf den Banken hin und her. Sie muß einfach grinsen. Amen, denkt sie. Amen.
     
    Georgies Kalesche bringt sie bis nach Leitli, wo sie die Fähre nach Kinghorn und dann die Postkutsche nehmen. Sie arbeiten sich die Ostküste hinauf, durch Cupar, St.   Andrews, Ellen,

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