Wassermusik
duckt sich weg, zuckt beiseite, wie um einem Schlag auszuweichen, und dann segelt der Entdeckungsreisende durch die Luft. Beine und Arme rudern einen kurzen, köstlichen Augenblick lang wild herum, er schwebt in voller Verzückung, restlos von Sinnen,stößt irgendeinen griechischen Schrei aus, bis ihn das dunkle, dampfende Wasser mit mütterlicher Umarmung in sich aufnimmt.
ZUR HÖLLE MIT HERODOT
«Wie bitte, Sir? Sie zweifeln an Herodot?»
«Zur Hölle mit Herodot. Und Plinius gleich hinterher. Wie kann man denn ernsthaft von vernunftbegabten Wesen erwarten, den ganzen Firlefanz über Eingeborene zu glauben, die wie Fledermäuse kreischen und schneller als Pferde rennen sollen? Oder über Pygmäen, Heinzelmännchen – wie man sie auch immer nennen mag –, die da im Dschungel umhertrippeln wie ein Kindergarten beim Ausflug nach Mayfair? Alles Märchen, sage ich Ihnen. Reinste Folklore. Timbuktu existiert ebensowenig wie das Land der Laistrygonen.»
Sir Joseph Banks, Vorstand der Akademie der Wissenschaften, Schatzmeister und Präsident der Afrika-Gesellschaft zur Förderung der Forschung, sitzt am Kopfende des Mahagoni-Tisches seiner Bibliothek am Soho Square Nr. 32. Vor sich ein Glas Madeira. Es ist Juli, die Fenster stehen offen, Motten umflattern die Lampen. An der Rückwand hängt Desceliers’ Afrika-Karte aus dem 16. Jahrhundert. Sir Joseph betrachtet sie mißmutig, achtet kaum auf die Debatte, die rings um ihn abläuft. Eine schöne Arbeit, die Karte von Desceliers. Bunt. Phantasiereich. Aber natürlich ist sie nicht viel mehr als ein Entwurf, auf dessen Umrissen ein paar Ortsnamen eingetragen sind – das gewaltige, unerforschte Landesinnere bleibt kunstvoll verborgen in einem Gewirr aus erdachten Flüssen und einer Heerschar von mythischen Kreaturen, sechsarmigen Jungfrauen und gliederlosen Zyklopen. Sir Joseph seufzt und nippt kummervoll an seinem Wein. Heute, zweihundertJahre später, wissen er und seine Kollegen, die Kinder der Aufklärung, nur wenig mehr als Desceliers.
«Sie übersehen eines, mein Bester: Homer mag von Euterpe verzaubert gewesen sein, Herodot aber war Geschichtsschreiber. Sein Ziel war es nicht, uns erbauliche Fiktionen, sondern lehrreiche Fakten vorzulegen.» Der Bischof von Llandaff ist zwar Stammitglied der Gesellschaft, nimmt aber heute abend seit ihrer Gründung vor acht Jahren erst zum zweitenmal an einer Versammlung teil. Er fällt vor allem durch seine hervorspringenden, knorpligen Gesichtszüge und die Kälte seiner winzigen, schiefstehenden Augen auf (seine Familie, die Rathbones, hat seit dem 14. Jahrhundert die fliehende Stirn, den majestätischen Riechkolben und die fleischigen Ohren zum Wahrzeichen – Riechkolben so majestätisch und Ohren so fleischig, daß sich darin fast schon die Entwicklung einer neuen Spezies mit schärferen Sinnen andeuten könnte). Seit einer guten Stunde verteidigt er nun schon die heilige und unerschütterliche Autorität der Klassiker. Sir Reginald Durfeys, William Fordyce und Lord Twit, denen das Thema durch Internatserinnerungen vermiest ist, widersprechen ihm darin, während Edwards und Pultney die meiste Zeit schweigen.
«Und was ist denn, mit Verlaub, Geschichte anderes als Fiktion?» Twit, im Oberhaus für seine piepsigen, gelispelten Reden bekannt, macht eine Kunstpause. «Sie wollen Herodots Vermutungen allen Ernstes als Fakten bezeichnen? Wo kamen diese ‹Fakten› wohl her? Aus dritter Hand? Aus fünfter Hand? Das frage ich Sie, Sir.»
Llandaffs Ohren sind heftig gerötet. Er setzt an, die weißen Kalbslederhandschuhe abzustreifen, überlegt es sich aber wieder und kippt statt dessen ein Glas Brandy. «Sie wagen es, die Klassiker anzufechten? Ja, aber unser ganzes Gerüst des modernen Denkens ist doch –»
Twit hebt die Hand. «Verzeihung. Ich war noch nichtfertig. Ich halte fest, daß all unsere geliebten Geschichtsschreiber – von den alten Griechen bis zu unserem kürzlich verstorbenen Kollegen, Mr. Gibbon – sich doch bestenfalls auf ein Gemenge aus Hörensagen, Schilderungen aus dritter Hand, absichtlichen Verzerrungen und reinen Fiktionen der Selbstverherrlichung stützen, erfunden von den Beteiligten und deren Sympathisanten. Und als wäre dies nicht genug, wird dieser Mischmasch aus Fälschung und Tatsachenverdrehung durch die verschmierte Linse des Historikers dann noch weiter entstellt.» Twit, der Lippenstift und Wangenrouge aufgelegt hat, ist in seinem Element – er genießt seinen
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