Wassermusik
Schilfhütten, die als Latrinen durchgehen könnten. Ratten und Schnecken bevölkern die Rinnsale, Schlangen züngeln von den Dächern. «Ebo!» ruft Johnson und versucht, den Alten einzuholen, aber der hastet weiter, als hätte er nichts gehört. Der Boden unter den Füßen wird jetzt sumpfig, Bambushecken erheben sich zwischen den Hütten, Vögel huschen durch die Bäume. Endlich hält der alte Mann vor einer ausladenden, baufälligen Hütte an, die auf Pfählen steht. Johnson kommt dazu und erkennt im tiefen Schatten unter dem Haus undeutlich die Gestalten einiger Frauen. Er ist verwirrt. Eigentlich hatte er angenommen, Ebo habe die Notsituation erkannt und ihn zu dem Entdeckungsreisenden geführt. Jetzt merkt er, daß er irregeleitet worden ist.
Ebo starrt die ganze Zeit in den Schatten hinein, immer noch schnuppernd. Die Frauen sind dick, mindestens vierzig. Ihre schweren Titten pendeln trächtig wie wassergefüllte Ballons. Wenn sie alle miteinander zwanzig Zähne zusammenkriegen, wäre es schon ein Wunder. «Ebo!» ruft Johnson, aber die Frauen tun jetzt faszinierende Dinge unter ihren Röcken, und dann heben sie die Finger hoch und lecken sie ab. Der alte Geisterbeschwörer hält es nicht mehr aus. Er legt ein verschrumpeltes Grinsen auf, macht Johnson mit erhobenem Daumen ein Zeichen und wackelt dann in den Schatten hinüber.
Johnson ist verdattert. Enttäuscht. Angeekelt. Neidisch. Er will ein Bier, einen Teller Reis mit Fleisch, eine Frau, ein Bett. Hier steht er, ein Mann von Würde und Bildung, das Pensionsalter weit hinter sich, ein Mann mit Frauen und Kindern und einem glücklichen Heim – und was macht er? Wandert über den halben Erdteil, riskiert Leben und Gesundheit, nur um einen schwachsinnigen, ruhmversessenen Bauernjungen aus der Patsche zu hauen. Er stößt einen tiefen, feuchten Seufzer der Verzweiflung und Resignation aus, wendet sich ab, um auf den bockigen Wildesel zu steigen, und bemüht sich krampfhaft, die große, plattgesichtige Frau zu ignorieren, die auf die Straße hinausgetanzt kommt und für ihn den Rock hochhebt.
Eine Viertelstunde später (anfangs leitet ihn der Instinkt, und dann, beim Näherkommen, sein Gehör) gelingt es Johnson endlich, den Entdeckungsreisenden aufzuspüren. Als er aus dem Labyrinth schmaler, unbefestigter Straßen auf eine Art Platz direkt am Fluß hinaustritt, bietet sich ihm ein außergewöhnliches Bild: Menschen, so weit das Auge reicht – dicht gedrängt wie Bienen im Stock. Es müssen bald viertausend sein, sie hängen aus Fenstern, von Bäumen und Dächern, stehen unsicher auf Schultern und Kamelrücken, strecken sich auf Zehenspitzen in die Höhe. Das Flußufer ist schwarz von ihnen, viele stehen knöcheltief, knietief, bis zum Hals im Wasser, andere wieder sitzen in schwankenden Pirogen und Lederkanus. Die gesamte Menge sieht stumm und erschreckt zu, wie diese unmögliche, unerklärliche Erscheinung, dieser auf Erden herabgefallene Mann im Mond, dieser weiße Dämon aus der Hölle mit voller Kehle singt, kreischt, lacht, plappert und psalmodiert, das Wasser aufwirbelt, die Ernte mit Flüchen belegt, den Himmel herabstürzen läßt und wer weiß, was sonst noch alles.
Johnson, der irgendwo hinten im Gedränge eingeklemmt ist, bringt sein Reittier zur Ruhe und erhebt sich behutsam auf dem Waschbrett des Eselrückens, bis er aufrecht stehen kann. Derart erhöht, kann er die wollige Masse von viertausend Köpfen überblicken. In Flußnähe (der Niger – gibt’s denn so was? denkt er) stehen die Köpfe noch enger beieinander, wie dichte Hecken von Papyrushalmen. Noch weiter vorne, gleich hinter dem Vorsprung eines wackligen Bambuspiers, schlägt Mungo Park das Wasser zu Schaum und singt aus vollster Kehle «God Save the King». Die Bamharraner sind wie gebannt, hypnotisiert – schweigsam und ernsthaft wie die ehrfürchtige Menge, die damals gemessenen Schrittes an der Bahre von Georg II. vorbeidefiliert ist.
Doch dann, wie so oft in einer Welt von Aktion und Reaktion, beginnen die Ereignisse aus dem Ruder zu laufen. Der Entdeckungsreisende, der sich des seinetwegen zusammengelaufenen Publikums überhaupt nicht bewußt ist, platscht plötzlich, von neuem Enthusiasmus gepackt, auf den Pier zu. Sein Ziel ist ein an einem Fischernetz befestigter gelber Flaschenkürbis; seine Absicht, ihn auf dem Wasser treiben zu lassen, um damit dem Abendland und allen nachfolgenden Generationen den schlüssigen Beweis der wahren Stromrichtung des
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