Wassermusik
schlaff, tropfend, übersät von Insekten. «Willst du haben?» Das Mandingo des Alten klingt zäh wie ein Schlaftrunk.
«Nein!» bittet Johnson. «Nein!»
Dann, urplötzlich und mit einer so blitzschnellen, fließenden Bewegung, daß sie das Auge gar nicht wahrnimmt, wirbelt Ebo das gräßliche Vieh durch die Luft. Federn flattern, dann legt es sich um Johnsons Hals wie eine Henkersschlinge. PATSCH! Der Vogel knallt ihm auf die Brust und baumelt dort. Maden ringeln sich in Johnsons Bauchfalten. Fliegen umschwirren seinen Kopf. Verglichen mit ihm strahlt die Pietà vor Freude.
Der Entdeckungsreisende steht mit sperrangelweit offenem Mund vor einem Rätsel, er ist Zeuge irgendeines primitiven Rituals. «Johnson», sagt er verwundert. «Schneid es doch ab. Wirf es in die Büsche.»
Der alte Ebo grinst von einem Ohr zum anderen.
Johnson läßt den Kopf hängen. «Ich kann nicht», wispert er.
Der harte Schlamm knirscht unter ihren Füßen, ringsum brüllen Tiere im Unterholz, und Johnson lockt die Fliegen an: Schmeißfliegen, Mistfliegen, Taufliegen, Schwebfliegen. Die Straße wird jetzt breiter, und von Zeit zu Zeit sieht man Behausungen, die sich unter Bäumen oder auf roten Lehmhügeln ducken. Vor den Hütten: barbusige Frauen, Männer in ausgebeulten Shorts, gestreiften Hemden und kegelförmigen Hüten, apathische Hunde. Die Männer nuckeln an langstieligen Pfeifen, die Frauen kauen Wurzeln und spucken durch die geschwärzten Zähne aus. Über ihren Köpfen schwanken Palmblätter. Ziegen scharren in Pferchen. Uringestank hängt schwer in der Luft.
Bei jedem Hügelkamm rast der Entdeckungsreisende voraus, reckt den Hals wie ein Tourist, kann sich nicht mehr beherrschen. Er schreit und wedelt mit seinem Hut zum Horizont hin, deutet hektisch auf einen verschwommenen hellen Fleck in der Ferne. «lst er das?» ruft er und hüpft auf und ab. «Ist er das?»
Auf dem achtzehnten Hügel bleibt Ebo stehen und schnüffelt die Brise. Mungo hält den Atem an. Zweifellos ist dort vorne etwas, Türme vielleicht, das Aufblitzen eines Fensters in der Sonne. Der verschrumpelte Wahrsager bückt sich, um einen runden weißen Stein im Schlamm aufzuheben. Er reibt ihn kurz in den ledrigen Fingern, steckt ihn dann in den Mund. Die greisenhaften Lider sinken wie Vorhänge herab, die Lippen schürzen sich, schmatzen bedächtig. Ewigkeiten verstreichen, die Welt dreht sich knirschend um ihre Achse, Konstellationen schieben sich übers Firmament. «Na?» will Mungo wissen. Ebo hebt die Lider. Spuckt den Stein aus. Das Summen von Johnsons Fliegen ist so laut wie ein Trommelwirbel. «Na?» Langsam und besonnen hebt Ebo den Arm, streckt einen krummen Finger aus. «Segou Korro», krächzt er.
Den Bruchteil einer Sekunde steht der Entdeckungsreisendewie gebannt, dann setzt er davon wie ein Sprinter. Hunger, Schwäche, Krankheit, pikende Stacheln in den Schuhsohlen, die Sonne, die das Wasser in seinen Augenwinkeln zum Kochen bringt – nichts davon hat Bedeutung: Das Ziel ist in Sicht. Seine Füße trommeln über den gelben Lehm, verwischen die Spuren all jener, die vor ihm kamen, während Johnson, Ebo, Pferd und Esel hinter ihm immer kleiner werden und die prächtigen goldenen Mauern der Stadt allmählich immer schärfer zu sehen sind. Hütten flitzen vorbei, Verkehr auf der Straße. Frauen balancieren Krüge auf dem Kopf, Jungen treiben Ziegen mit langen, biegsamen Gerten, schwerbeladene Esel, Traggestelle mit Feldfrüchten, buntglitzernde Vögel in Weidenkäfigen. Alles nur verschwommene Bilder. Er bleibt nirgends stehen, rast jetzt zwischen den schweren Torflügeln hindurch, bahnt sich den Weg vorbei an erstaunten Gesichtern, durch überfüllte Straßen und Gassen, wie wild nach dem Fluß ist er, seine Füße stampfen, verdatterte Bambarraner sammeln sich hinter ihm wie Kinder bei einem Umzug, staubige Straßen, ein toter Hund, Hausierer und Händler, leuchtende Farben und Bewegung – und da, da ist er! Breit wie die Themse, braun wie ein Abwassergraben, gespickt mit Flößen und Kanus, das Ufer ein Durcheinander von planschenden Kindern, wühlenden Schweinen, Wäscherinnen mit weißen Hauben. Er dreht sich nicht nach dem Lärm in seinem Rücken um – bemerkt ihn gar nicht, setzt über Kisten und Käfige, schubst Kinder und alte Frauen beiseite, stößt Bauern und Fischer mit dem Ellenbogen aus dem Weg, ein seltsames, urtümliches Triumphgeheul brennt in seiner Kehle. Der Bambuspier schwankt unter seinen Füßen, ein Bootsführer
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