Wassermusik
andere Stimme, hoch und rein und klingend in der Überzeugung, daß es trotz allem doch Frieden und Vollkommenheit auf der Welt gibt, hat plötzlich in sein Singen eingestimmt:
Es maß zehn Meter rundherum, Sir,
ich glaub’, es war nicht mehr.
Ned wirbelt herum, seine Röcke rascheln wie ein verborgenes Publikum. Vor ihm, einen Weidenkorb unter demArm, steht ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren. Weiße Rüschenhaube, blonde Löckchen. Ein schokoladenbrauner Kittel über einem blütenweißen, gestärkten Brusttuch. Ein Stubenmädchen, denkt Ned, während sie so unbefangen, als sänge sie zu Hause am Herd, zur nächsten Strophe anhebt:
Die Woll’ auf seinem Rücken, Sir,
die wuchs bis zu den Stern’,
die Adler bauten Nester drin,
ich hört die Küken plärr’n.
Die Woll’ auf seinem Bauche, Sir,
die wuchs bis auf den Grund.
Das Schaf ward dort verhökert, Sir,
für vierzigtausend Pfund.
Er ist baff vor Staunen. Überwältigt. Sie ist wie aus einem Renaissance-Gemälde. Maria, die Milchmagd, die Sonne läßt den Strahlenkranz ihrer Locken aufleuchten, den Korb mit frischen Eiern und einem Sahnekrug wiegt sie im Arm wie den kleinen Messias. Unschuld, Schönheit, Frische und Licht: die Kombination ist atemberaubend. Ohne nachzudenken, beginnt er die nächste Strophe und setzt seinen Tenor gegen ihren bebenden Alt:
Und bei den Jungs von Derby, Sir,
gab’s bald den großen Zank,
ein jeder des Schafes Augen wollt’,
so’n Fußball sucht man lang.
Das Fleisch von diesem Schafe, Sir,
war genug für’s ganze Heer.
Und was davon noch übrigblieb,
die Flotte schätzt’ es sehr.
Und jetzt lacht sie, mit ihren perfekten Zähnen, den Kopf zurückgeworfen, und reckt ein winziges, süßes Doppelkinn hervor. «Ziemlich mächtige Stimme, die Sie da haben, gute Frau», sagt sie lachend. Ned grinst wie ein Haifisch. «Vielleicht bin ich nicht das, als was ich erscheine, meine Dame.»
«Ein Wolf im Schafspelz?»
«Nicht ganz», erwidert Ned und zieht Käppchen und Haube vom Kopf.
Sie klatscht in die Hände und kichert. «Ein Damenherr!»
«Es ist nämlich so», erklärt Ned, «daß ich gerade von einem Kostümball komme. Sehr elegante Sache das. Die Punschgläser in Form von Elefanten geblasen, Melonenkugeln, Kaviar auf Eis.»
«Oh!» sagt sie. «Wie lustig!»
Ned läßt die Hacken knallen und beugt den Kopf. «Ned Rise, zu Ihren Diensten.»
Ihr Name ist Fanny Brunch. Sie arbeitet als Stubenmädchen in Nr. 32, im Hause von Sir Joseph und Lady Dorothea Banks. Sie hat nichts dagegen, daß er sie heimbegleitet.
Die Straße ist menschenleer. Die Sonne sprenkelt das Laub, Vögel hüpfen von Ast zu Ast. Ned nimmt ihren Arm, und sie machen sich auf den Weg, sein Rock massiert den ihren. «Wissen Sie», sagt Ned, «ich beginne mich zu fühlen wie Pizarro, als er unerwartet auf die Sieben Goldenen Städte stieß.»
ABSTURZ
Was sollte er tun? Sein Leben war verwandelt.
Beim Aufwachen war er in Gedanken bei Fanny, beim Fischeierverkaufen dachte er an nichts anderes, er fiel abends ins Bett mit einem hungrigen Schmerz, der an ihm nagte, war innerlich zugleich übervoll und leer, und erträumte von Fanny, Fanny, Fanny. Frauen hatte er viele gehabt. Dutzende. Huren und Schankmädchen, Bauernmädchen, Blumenmädchen, Verkäuferinnen, Töchter von Fischhändlern und Kesselflickern, Ammen und Kindermädchen, Schlampen und Schnapsdrosseln – die Nan Punts und Sally Sebums dieser Welt. So hielt er sein Organ in Übung, nichts weiter. Man steckte ihn rein, man zog ihn wieder raus. Aber das hier, das war anders. Diesmal war sein Herz mit im Spiel. Und sein Kopf.
Am Tag, nachdem er sie kennengelernt hatte, suchte er den Soho Square heim, als Klavierstimmer verkleidet. Es regnete. Nieselte jedenfalls. Sein falscher Schnurrbart hing schlaff herab, es wusch ihm die Farbe aus dem Haar, der Sack mit Stimmgabeln, Zinnhämmerchen und Haarpinseln wurde immer schwerer vor Nässe. Als Sir Joseph einen Blick aus dem Fenster der Bibliothek warf, sah er ihn am Eisenzaun lehnen, durchnäßt und verloren. Lady Banks ging auf dem Weg zur Whistrunde bei Mrs. Coutts an ihm vorüber. Eine herrenlose Katze bepinkelte seine Strümpfe. Irgendwann trat aus Nr. 38, dem Laden von J. Kirkman & Söhne, Pianoforte-Herstellung, einunfreundlicher Angestellter heraus und sagte ihm, er solle anderswo herumlungern. Fanny erfuhr nicht einmal, daß er da war.
Der nächste Tag war kein bißchen
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