Wassermusik
besser. Er mietete sich einen Wagen, setzte den Kutscher nach hinten, nahm die Zügel selbst in die Hand und trottete von morgens bis abends den Platz hinauf und hinunter. Angestrengt versuchte er, auch nur die leiseste Bewegung hinter den Fenstern von Nr. 32 zu erspähen, aber abgesehen von zwei kurzen Auftritten von Byron Bount und einer Frontalansicht von Lady Banks’ Mops sah er gar nichts. An den folgenden Tagen verkleidete er sich als Matrose, Blasebalgflicker, Süßbrei-Verkäuferin, Aufwischfrau, Syphilitiker im Endstadium und königliche Wache. Fanny hatte seit über einerWoche das Haus nicht verlassen. Das Geld zerrann ihm unter den Fingern. Das Kaviar-Geschäft lag darnieder.
Dann, als er eines Abends im Zwielicht herumschlich, angetan mit den zerfetzten und rußigen Lumpen eines Schornsteinfegers, ging die Tür auf und eine weibliche Gestalt – von einem Mops an einer silbernen Leine vorwärtsgezerrt – kam die Stufen herab. Ned kam pochenden Herzens näher, überlegte sich eine Begrüßung – sollte er ein paar Takte von «Das Schaf von Derby» pfeifen? – und sann gleichzeitig über eine Entschuldigung für seinen Aufzug nach. «Fanny?» flüsterte er mit vor Leidenschaft heiserer Stimme.
«Häh? Was is los?» kam die Antwort in einem Ton, mit dem man die Straße hätte desinfizieren können. Er starrte in ein von Ekzemen überkrustetes Gesicht und ein milchiges, schielendes Auge. Der Mops knurrte.
«Vielmals Verzeihung, meine Dame», sagte er mit einer Verbeugung. «Ich vermeinte, Sie seien vielleicht Fanny Brunch.»
«Wa? Fanny wie? Nie gehört von.»
Er sprach mit Barbara Dewfly, der Abwaschfrau. Eine halbe Crown später erinnerte sie sich doch, Fanny sei «so’n junges Luder, wo die Stinkesocken von Seine Lordschaft waschn tut», und fügte hinzu, daß es «verdammich viel kosten täte, wenn irgendwer fürse ’ne Nachricht oder so was raufbring soll». Ned drückte ihr noch eine Münze in die Hand, dazu eine hastig gekrakelte Notiz:
Trefft mich um Mitternacht an der Hintertür, Euer Erg. u. Unterw. Diener, der Euch besser kennenzulernen wünscht, Ned Rise
. Der Hund kackte einen Haufen auf den Bürgersteig. Dewfly raffte ihre schmutzigen Röcke, ging wieder die Stufen hinauf und war verschwunden.
Es sei an dieser Stelle bemerkt, daß das Leben des Dienstpersonals im georgianischen England nicht eben die Möglichkeiten für ein breites Spektrum sozialer Kontaktebot. Dienstboten, so sie überhaupt das Glück hatten, bei einer Herrschaft Anstellung zu finden, wurden fürs ganze Leben aufgenommen. Man erwartete von ihnen, daß sie ihre Familien, Interessen und früheren Bindungen, ihr Sexualleben und ihre Heiratsabsichten aufgaben. Von dem Augenblick, da sie eingestellt wurden, lebten sie ausschließlich für Wohl und Bequemlichkeit ihrer Dienstherren, emsige Arbeitsbienen, die geschäftig die trägen Drohnen und aufgedunsenen hilflosen Königinnen umschwirrten. Der Lohn dafür? Sechs oder sieben Pfund per annum, ein warmer Kaminrost, ein trockenes Bett und – das Allerwichtigste – drei ordentliche Mahlzeiten am Tag. Zu einer Zeit, da die Straßen mit Dieben und Bettlern voll waren, die Preise infolge des Krieges mit Frankreich ständig höher kletterten, Wohnmöglichkeiten unzureichend oder gar nicht zu beschaffen waren und täglich Wagenladungen von spindeldürren, hohlwangigen Männern und Frauen vor Hunger tot umfielen, war eine Stelle als Kammermädchen oder Lakai keineswegs zu verachten. Und der Verlust der Selbstbestimmung schien dabei denn doch ein kleiner Preis.
So war es auch bei Fanny. Von der Hand-in-den-Mund-Existenz auf dem Land (Kühemelken, Mistschaufeln, Grütze dreimal am Tag) hatte sie es zu einem relativ guten und sorglosen Leben gebracht, als sie von der Fuchtel ihrer Eltern unter die von Lady B. wechselte. Bei ihrer Ankunft im Hause Banks war sie von Lady Banks beiseite genommen und vor den Schrecknissen und Entwürdigungen des Geschlechtsaktes sowie vor der Sklaverei der Mutterschaft gewarnt worden, sie hatte ein Gebetbuch bekommen, und man hatte ihr gesagt, sie müsse sich nunmehr höheren Dingen widmen. Sie habe eine Stellung zu halten. Sie sei nun Stubenmädchen in den oberen Geschossen des Hauses von Sir Joseph Banks, eines wahrhaft großen Mannes seiner Zeit, und sie dürfe nichts tun, was ihn oder seinen Haushaltin Verlegenheit bringen könnte. Zum Schluß hatte Lady B. ein großmütterliches Lächeln aufgelegt und Fanny gefragt, ob sie verstanden habe.
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