Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
sich erfrechen wollen, alle im Ungefähren und Unvorhergesehenen belassenen Wegkreuzungen und Sackgassen der Zukunft bereits im Voraus zu kennen. Wie seine waghalsigen Kriegsabenteuer gezeigt haben, ist Karl aber eben so ein vorwitziger Typ gewesen. Vom Fluch ihrer trostlosen Einblicke geschlagen oder vielleicht von nagenden Zweifeln an der unumstößlichen Wahrheit des Zweiten Gesichts umgetrieben, hatte die alte Wahrsagerin am Abend des Ablebens von Lenas Mann noch an der Wohnungstür geschellt, um letzten Endes doch nur bestätigt zu finden, dass der von ihr geschaute fatale Ausgang des unentrinnbaren Geschehens, eines in zeitlosen Sphären vielleicht von großen Unsichtbaren geführten Würfelspiels, auf irdischer Ebene traurige Gewissheit geworden war.
Nach dem ebenfalls unausweichlichen Ende des nächsten Krieges, dessen offenbar durch nichts und niemanden aus der Welt zu schaffende Ursache im vorhergehenden Gemetzel zu suchen ist, zog Lena mit ihrem zweiten Ehemann Wilhelm, dem Großvater des Jungen, und ihren beiden Töchtern Carla und Bertha, die Halbschwestern waren, in das unscheinbare graue Mietshaus zwischen Bahndamm und Schrebergartensenke. Die letzten Kriegsmonate war die Familie notdürftig bei einem schroffen, sich als überaus habgierig und hartherzig erweisenden Großbauern im Voralpenland einquartiert gewesen, da ihre über Marthas Eckwirtschaft gelegene Wohnung nach einem schweren Bombenangriff total ausgebrannt war.
Im neuen, gleichfalls durch Bomben stark beschädigten, aber nach einigen umfangreichen, von den Mietern eigenhändig ausgeführten Reparaturen wieder bewohnbar gemachten Haus gibt es eine Waschküche mit einem in der Mitte eingelassenen gusseisernen Abfluss. In dem stets feuchten, über den Hinterhof zugänglichen Raum, dessen grauer Zementboden einige Stufen tiefer liegt als die ebene Erde, wirtschaftet tagsüber meist, in der verhärmten Tracht geblümter Kittelschürzen steckend, eine der um Arbeit nie verlegenen Hausfrauen unbestimmten Alters mit Wurzelbürste, Waschpulver, Wäschestampfer und Kernseife herum. Der ummauerte Zuber wird von unten mit Holz befeuert, die über Nacht darin eingeweichten Wäschestücke ausgiebig mit einem Stampfer gerührt, gepresst und mit dem Bleuel aus der heiß dampfenden Lauge herausgefischt. Anschließend wird die ausgekochte Wäsche auf der nassen Waschbank geklopft, gewrungen und gestriegelt. Nach dem kräftezehrenden Auswringen kommt sie unter den kritischen und missgünstigen Augen der anderen Hausfrauen gleich an Ort und Stelle an einem zwischen Wäschestangen aufgespannten Strick zum Trocknen in den Hof. Sofern der Nachwuchs nicht am Wäschetag tatkräftig mithelfen muss, balgt er sich zu Füßen der Frauen zwischen Klammerbeuteln und Wäschekörben, vergnügt sich selbstvergessen vor den Aschetonnen mit Schnappverschlüssen, Glasscherben, Gummibällen und Schussern oder spielt auf der betonierten Hoftreppe mit kindlichem Ernst
Vater, Mutter und Kind
. Bei Regenwetter schleppen die Frauen die schweren Körbe durch das Stiegenhaus in den Dachstuhl hinauf und lassen ihre aufgehängten Hemden und Tücher in der harzig duftenden Luft des Speichers trocknen.
Gleich neben der Waschküche liegt eine dämmrige Kellerwohnung, von einem einzigen Fenster erhellt, das zum Hof hinausgeht. Hinter dem Fensterkreuz erscheint bisweilen eine füllige alte Frau, deren großer von einem Kropf am Hals verunstalteter Kopf scheinbar haltlos hin- und herwackelt. Nicht lange beobachtet sie die spielende Kinderschar, da entriegelt sie schon das Fenster und winkt die Kleinen heran, um ihnen ein Glas voll warmer Milch mit Honig herauszureichen, wobei aus ihrem zahnlosen Mund unverständliche Laute quellen. Manche scheuen sich davor, die milde Gabe anzunehmen. Sie glauben fest daran, dass die gutmütige Alte eine böse Hexe sei. Cornelius hat sich nicht den Namen von jeder Wesenheit gemerkt, die den Horizont seiner Kindheit überschritt, aber die schwerfällige Alte und die einladende Gebärde, mit der sie das Milchglas kredenzt, stehen ihm für alle Zeit klar und deutlich vor Augen.
Auch der herbe Geruch seiner frühen Kindheit hat ihn nie verlassen: Wie aus einem offenen Grab riecht sie nach schwarzem Humus, feuchtem Zement, moderndem Holz und Ziegelschutt, aus dem das halbe Jahr über gelb das Schöllkraut wuchert, sie riecht nach Brennnesseln, Beinwell und süßem Holunder, nach dumpfem Keller und der schalen Bilge hochgequollenen Grundwassers, nach Spülicht
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