Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
und Bohnerwachs, nach dem betörenden Aroma von Flieder und Geißblatt, nach Bierfässern und – nach warmer Milch.
Auf der Fassade des mörtelfleckigen Gebäudes ist zwischen zwei Fenstern des Erdgeschosses ein langer verblasster, ehemals weißer Strich zu sehen, der sich auf der Höhe der Fensterbretter verzweigt und in Pfeilen endet, die auf darunterliegende Keller aufmerksam machen. Im letzten Krieg hat sich dort ein mit Stahltüren gesicherter Raum befunden, der sogenannte Luftschutzkeller, in den sich bei »Fliegeralarm« Hausbewohner und Passanten flüchten sollten. Vor dem zur Geburt des Jungen kaum acht Jahre zurückliegenden Krieg hat im dritten Stock, wo der pensionierte Beamte Klein gegenüber der Familie des Maurerpoliers Groß lebt, der Fliesenleger Josef Eisenbarth zur Miete gewohnt. Eisenbarth ist ein Syndikalist gewesen, ein Gewerkschafter also, der nicht nur die Bürokratie der Gewerkschaftszentralen abgelehnt hat, sondern auch den Kampf der Arbeitervertreter um politische Macht in den Parlamenten. Er war organisiert in der Freien Arbeiterunion und stand dem Ortsverein der Hafner und Fliesenleger vor. Im ersten Stock hatte sich sein Arbeitskollege und Genosse Hanstein einquartiert. Als Cornelius seine ersten selbstständigen Streifzüge entlang der Gassen, Häuserblocks und Fabrikhallen, über die Plätze und Hinterhöfe der Vorstadt unternimmt, ist die alte Hansteinin noch am Leben, eine sonderbare Greisin, die sich in der Wohnung eine Milchgeiß hält. Sobald ihn die Erinnerung an Eisenbarth heimsucht, pflegt Wilhelm, der Großvater des Jungen, den volkstümlichen Spottgesang auf dessen berühmten und als Kurpfuscher verleumdeten Namensvetter anzustimmen:
Ich bin der Doktor Eisenbarth, kurier die Leut auf meine Art
.
Wilhelm ist außerhalb seiner Familie ein allseits geachteter Mann, er kennt fast jeden Menschen im Umkreis des Viertels und noch weit darüber hinaus, und umgekehrt scheinen so gut wie alle Leute ihn zu kennen, da sie ihn auf seinen Rundgängen immer freundlich grüßen. Überall ist er gern gesehen, ob er nun mit dem Jungen zum Eisstockschießen auf der zugefrorenen Fläche des kleinen Hinterbrühler Sees erscheint oder mit ihm an der Hand durch die Isarauen wandelt, auf gemächlichen Gängen, die meist im grün getäfelten Gastraum der Flaucherwirtschaft enden. Cornelius imponiert ungemein, dass der unverwüstliche Blasius, der allseits bekannte und viel gerühmte Spaziergänger und Schriftsteller Sigi Sommer, dessen Vorstadtroman
Und keiner weint mir nach
zu den seltenen Büchern zählt, die zu Hause in Ehren gehalten werden, den Großvater ganz vertraulich mit dem Vornamen grüßt, wenn beide sich auf der Straße begegnen. »Servus, Willi!« »Sigi, habe die Ehre!« Bei der kleinen, dreieckigen Grünanlage am Wasserturm mit ihren großen Kastanienbäumen, dem sogenannten »Dreieck«, wo vis-à-vis der Sommer Sigi in einer grauen Zinsburg aufgewachsen ist, hatte der Großvater vor dem Krieg eine von seinem verstorbenen Stiefvater übernommene Gastwirtschaft geführt, die den Sicherheitsabteilungen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft als Versammlungslokal diente. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum er bei der Bevölkerung der südlichen Vororte in so hohem Ansehen steht.
Schon Wilhelms Stiefvater Sebastian konnte als lokale Größe gelten. Als zu seiner Zeit eine schwer bewaffnete Hundertschaft des Oberlandbundes das Brudermühlviertel absperrte, die Straßenbahn anhielt, mit aufgepflanzten Seitengewehren in Häuser und Wohnungen eindrang, Dachböden durchsuchte, die Einwohnerschaft misshandelte und Flüchtende in den Rücken schoss, verteidigte er mit bewaffneten Arbeitern seine Gaststätte solange gegen die wild feuernden Angreifer, bis nach Stunden endlich die grüne Polizei eintraf, ihn mit seinen Leuten entwaffnete und festnahm, während der gegnerische Haufe ungehindert abziehen durfte. Wochen nach diesem erbitterten Gefecht mitten im Frieden zerrte man den respektablen Wirt sogar in Handfesseln vor Gericht, und er wurde wegen Landesverrats zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Unter Sozialdemokraten und Kommunisten, unter Weißen, Roten und Braunen, erst recht unter Syndikalisten, dem nationalen »Bund Oberland« oder dem sozialdemokratischen »Reichsbanner« kann sich Cornelius nur wenig vorstellen. Doch bleiben für ihn diese Bezeichnungen nicht nur fremde Worte. Aus Plaudereien am Wohnzimmertisch, die sich immer dann zu langatmigen Erzählungen
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