Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
auswachsen, wenn Tante Hilde zu Besuch kommt, die Schwester des tödlich verunglückten Betriebsrats, bekommt der Junge beiläufig manches mit, woraus er sich mit der Zeit eine ganz passable Geschichte zusammenreimen kann. Unglaubliche Schauergeschichten sind es, denen er gebannt zuhört, dunkel schillernde Scherben aus vergangenen Tagen. Sie regen seine Phantasie an und werden ihn sogar noch als Erwachsenen über die Maßen beschäftigen. Bei diesen spätnachmittags im düster werdenden Wohnzimmer zelebrierten Kaffeerunden ist auch von käuflichen Mädchen und ihren Kavalieren die Rede, vom Handwerk der Engelmacherinnen und von jungen Frauen, die ins Wasser gingen, weil sie mit ihrer Schande nicht mehr leben wollten.
Cornelius erfährt aus diesen Gesprächen aber auch, dass die Häuser am Bahndamm lange vor seiner Geburt von einer geradezu biblischen Wanzenplage heimgesucht worden sind, Wanzenarmeen nahmen Wohnblock um Wohnblock ein, bis endlich alle Zimmer verwanzt waren, es saßen Wanzen hinter den Tapeten, Wanzen am Plafond, Wanzen in den Betten, in den Büchern, in jeder Ritze, Wanzen waren früher einfach überall,
sieh dir mal die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann
. Er hört davon, wie einst entfesselte Freischärler, weiß gegen rot auf die Fassaden zielend, und das bereits Jahre vor der »Schlacht um das Brudermühlviertel«, in der sich der Stiefvater Wilhelms mit den Oberländern herumgeschlagen hatte, schon einmal über den Flauchersteg entlang der Bahnlinie gezogen sind, durch eine Gegend, die er in- und auswendig kennt, weil sie innerhalb der Grenzen seiner kleinen, überschaubaren Welt liegt. In einem Nachbarhaus tötete sogar ein von den weißen Freischärlern abgefeuerter Schuss einen Säugling in den Armen der Mutter, obwohl die Frau nicht einmal in der Nähe des Wohnungsfensters gestanden hat, sondern sich im hinteren Bereich des Schlafzimmers aufhielt.
In der am Kanal gelegenen Heilanstalt beabsichtigte die rachsüchtige Soldateska – außer sich über den hartnäckigen Widerstand, der ihrem Vorrücken in den südlichen Stadtteilen entgegengesetzt worden war – anhand ihrer Schusswunden als Kämpfer ersichtliche Rotgardisten aus den Betten und Operationssälen zu holen, um sie gleich an Ort und Stelle zu erschießen. Der Inhaber des Krankenhauses habe sich der marodierenden Rotte aber beherzt entgegengestellt und am Verrichten ihres Mordhandwerks gehindert. Den düsteren Sagen aus der Wirrnis der Rätezeit, die dem ersten Mann von Großmutter Helena beinahe zum Verhängnis geworden wäre, ist ein epischer Ton eigen, der von barbarischen Gräueln kündet, von ungezügelter Gewaltanwendung, kühnem Wagemut, verschlagener List und zähem Überlebenswillen.
Auch Großvater Wilhelm kann ein Lied davon singen, wie er damals, als blutjunger Stenz von siebzehn Jahren, durch Besonnenheit seine Haut gerettet hat. Ein Bekannter wollte ihn unbedingt dazu bringen, Waffen für die Rote Garde im Schuppen der mütterlichen Gastwirtschaft einzulagern. Er sei aber diesem Ansinnen zunächst mit Ausreden begegnet, und als er dann nicht mehr umhinkonnte, dem Drängen nachzugeben, habe er die Ausführung so lange hinausgezögert, bis es dafür zu spät gewesen sei. Nachträglich habe der unglückliche Verlauf der Dinge seine Handlungsweise mehr als nur gerechtfertigt. Gegen eine sechsfache Übermacht hätten die Verteidiger der Räterepublik einfach keine Chance gehabt. Nach der militärischen Niederwerfung der Räterepublik haben die weißen Einwohnerwehren alle Häuser und Schuppen durchkämmt, die Helfer der Roten seien von biederen Nachbarn denunziert worden, etliche habe man blutig geschlagen und im Schlachthof eingesperrt oder aber, ohne viel Federlesens zu machen, gleich an Ort und Stelle an die Wand gestellt und umgebracht.
Auf der Anhöhe des im Winter als Rodelhang dienenden Neuhofer Bergs stehend, einer aus unermesslichen Mengen Kriegsschutt gefertigten Kippe, die man an das Sendlinger Hochufer der Isar gestückelt hatte, richtet sich der Blick des Jungen oft auf die jenseitige Uferhöhe, nach Giesing. Dort verfängt er sich an einem imposanten, grauen Kasten, dem sogenannten Krüppelheim, einer jener eilends improvisierten Richtstätten, an denen seinerzeit die preußischen und württembergischen Freikorps in den ersten Maitagen des Jahres 1919 »spartakusverdächtige« Arbeiter und Tagelöhner willkürlich ermordet haben.
Je nachdem, wie der Wind steht, liegen milde oder strenge Gerüche in der
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