Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Luft. Von Süden und Westen weht es den strengen Tabakduft aus der ehemaligen Zubanfabrik heran, vermengt mit dem kräftigen Wohlgeruch gerösteter Feigen aus der örtlichen Niederlassung der Imperial-Kaffeefabrik. Der Norden dünstet den ranzigen Gestank der Gerberei aus, einen schwelenden Brodem aus Fäulnis und Urin, der einem schier den Atem verschlägt. An besonders balsamischen Tagen wittert man ein süßliches Aroma, das seinen Ursprung in den Mälzereien und Sudkesseln der Innenstadt hat. In der stickigen Luft eines Nachmittags im Juli riecht es aber aus der Schrebergartenmulde nach heißer Dachpappe, und auf der frisch gemähten, von Lindenbäumen umstandenen Wiese unterhalb des Judenfriedhofs duftet es nach Heu, das dort in großen Haufen und Schwaden herumliegt.
Unter der weißlichen Dunstglocke des frühen Nachmittags ist Cornelius mit einer quirligen Kinderschar zwischen den Heuschwaden herumgetobt, irgendwann hat sich die ganze Rasselbande erschöpft in einem großen Haufen verbuddelt, hat sich eine gemütliche Höhle in den vor schwüler Feuchtigkeit dampfenden Berg gewühlt. Bis auf Irma, die schon seit einer geraumen Weile die Schulbank drückt, sind alle anderen Kinder noch nicht im schulreifen Alter. Cornelius’ Freund Béla ist darunter, der mit seinen Eltern nach dem Volksaufstand aus Ungarn geflüchtet ist. Er hat braune Locken, auf seiner leicht nach Kakao duftenden Haut prangen linsengroße Sommersprossen. Bélas Kopf steckt voller Einfälle, laufend heckt er die unsinnigsten Streiche aus. Er ist ein »Schlüsselkind«, wissen die Erwachsenen, da beide Eltern arbeiten gehen und den »Frechdachs« tagsüber allein und unbeaufsichtigt in der Wohnung lassen. Der verschmitzte Xaver, dessen Vater im gepachteten Schrebergarten Bienenbeuten bewirtschaftet und Honig daraus gewinnt, ist auch mit von der Partie, außerdem noch die freundliche Lisa aus dem Nachbarhaus, der semmelblonde Josef, ein unangefochtener Schusserfex, mit der treuherzigen Manuela im Schlepptau, die beim Gehen immer ihre Füße nach innen kehrt und dabei versonnen in der Nase bohrt, insgesamt ein halbes Dutzend Knaben und Mädchen. Irma ist ihre Wortführerin, ein feingliedriges, einfallsreiches Geschöpf, mit stolz funkelnden dunkelblauen Augen und langen, dunklen Haaren, hochnäsig und schnippisch, die gewandte Königin des Hula-Hoop. Bald wird das launenhafte Mädchen Cornelius einen Vorgeschmack davon verschaffen, wie es sich anfühlen mag, wenn man in schlimme Zeiten und unter böse Zungen verschlagen wird, denn allem Anschein nach –
angsthase pfeffernase
– ist das Leben immer auch ein arges Kinderspiel.
Von der faden Ruhe gelangweilt, die nach dem ausgelassenen Herumtoben in der dampfenden Höhle eingekehrt ist, sinnt die kleine Teufelin auf einen zündenden Einfall. Ein Weilchen überlegt sie noch mit vorgeschobener Unterlippe, aber gleich lässt sie wieder ihr energisches Stimmchen ertönen, womit sie die ganze struppige Bande aufscheucht, die sich eben noch, ermattet und vom starken Geruch des frischen Heus betäubt, schläfrig aneinandergekuschelt hat. Dem verschwitzten Anhang enthüllt sie den Plan, den sie inzwischen ausgeheckt hat, nämlich dass alle sich augenblicklich zum Rand der Schrebergartensenke zu verfügen haben, dorthin, wo sie erst vor ein paar Tagen im Schutz des von Schlingpflanzen überwucherten Unterholzes versucht hatten, die fasrige braune Ranke der Waldrebe zu rauchen, den sogenannten Judenstrick, wovon ihnen in der Folge schwummerig und schlecht geworden war. Dort soll nun ein neues tolles Spiel beginnen, ein Doktorspiel. Die resolute Anstifterin legt auch klipp und klar fest, wer von ihnen Doktor und wer Patient sein soll. Irma selbst und Cornelius sind demnach Ärzte und werden die anderen Kinder behandeln, die sich freimachen müssen, um gewissenhaft vom Kopf bis zum Fuß, an Hals, Nasen, Ohren, Mund, Brust, Bauchnabel, Zipfel und Schlitz untersucht, abgeklopft und versorgt zu werden.
Alle Müdigkeit ist verflogen, und mit freudigem Eifer gehen die Kinder in ihren neuen Rollen auf. Ganz in ihr Spiel vertieft, merken sie kaum, dass sich schon nach kurzer Zeit ihre Anführerin davongestohlen hat. Sie bleibt allerdings nicht lange fort, in Begleitung ihrer Mutter taucht sie bald wieder auf. Mit einer Hand hält Irma, die im bleichen Licht wie eine entrückte Erscheinung am Rand der Böschung steht, die herbeigeholte Mutter am Rock gefasst, mit der anderen deutet sie anklagend auf Cornelius
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