Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
Vom Netzwerk:
maikäfer, flieg!

II
    Zu der Zeit, da Cornelius noch den Tintenmief der ersten Volksschulklassen atmet, mehren sich in der Vorstadt die Anzeichen fortschreitender Umwälzungen. Der Basalt und Granit der gepflasterten Straßen wird unter Asphalt begraben, das ramponierte rote Klinkertrottoir allmählich durch graue Gehwegplatten aus Beton ersetzt. Gestalten wie der Goggolori sind anscheinend ins Nirgendwo entschwunden, Kesselflicker, Scherenschleifer und andere artverwandte Existenzen rar geworden. Irgendwann bleiben auch die von stämmigen Brauereirossen gezogenen Fuhrwerke aus, die regelmäßig Fässer, Bierkästen und Stangeneis an die Eckwirtschaft geliefert haben. Die Schneisen und Lücken, nach den Luftangriffen und beim großflächigen Aufräumen der Ruinen entstanden, schließen sich allmählich wieder. Komplette Wohnsiedlungen werden aus dem Boden gestampft. Ein Großkonzern im weitläufigen Obersendlinger Industriegebiet gebietet wieder über eine Heerschar Arbeiter und Angestellter, die Wohnraum benötigen. Auch gegenüber der Lokalbahn werden schmale Häuser mit niedrigen Stockwerken hochgezogen, in die bei gleicher Traufhöhe viel mehr Wohnungen und Mieter passen, als in den Vorkriegsbauten Platz gefunden hätten. In den alten Zinsburgen bricht ein anhaltender Modernisierungswahn aus, werden Bäder ein- und Etagenklos umgebaut, Rohre und Leitungen unter Putz gelegt, Bakelitschalter und -steckdosen durch Plastik ersetzt. Die Bahnstrecke, die zu ihrer Glanzzeit die Vorstadt mit dem Hochland verbunden hat, steht kurz vor der Stilllegung, da ihr Schienenstrang dem Bau einer Schnellstraße im Wege ist. Mit den vertrauten ochsenblutroten Triebwagen der Isartalbahn, die mit das Haus erschütternder Regelmäßigkeit durch die meist ereignislosen Tage von Cornelius’ Kindheit gerattert sind, verabschiedet sich unwiderruflich ein ganzes Zeitalter. Im sozialen Gefüge des Viertels kommt es zu merklichen Verschiebungen. Zuwanderer mit anderen, vermeintlich höher gestellten Berufen, denen die alte vorstädtische Lebensweise vollkommen fremd ist, prägen das Gesicht der Gegend.
    Bald wird Schluss sein mit den wilden, ungezügelten Aktivitäten auf der Bauwiese. Auf der mit Kriegsschutt aufgefüllten Brache errichtet die Stadt ein modernes Freizeitheim mit angebauter Tennishalle, aus der verbliebenen Kiessenke wird ein großer Sportplatz modelliert. Damit hat auch das gefahrvolle Hantieren der »Halbstarken« mit Sprengstoff ein Ende. Die jungen Burschen gewinnen das explosive Pulver aus der Munition, die bei der alljährlichen Bachauskehr in rauen Mengen zum Vorschein kommt. In geheimen Verstecken horten manche ein imposantes Waffenarsenal: Handgranaten, Panzerfäuste, Pistolen, Seitengewehre, Helme, Koppeln, rostige Maschinengewehre, Teile der militärischen Ausrüstung, die seinerzeit, vor dem unabwendbaren Einmarsch der Amerikaner, von den sich eilends in Zivilisten verwandelnden Soldaten der Wehrmacht kurzerhand in den Kanal geworfen wurde.
    In der Tennishalle werden dafür an manchen Nachmittagen Abenteuerfilme gezeigt. Dort sieht Cornelius lachhafte kurze Fuzzy- oder Zorrowestern, aber auch fesselndere Streifen, die seine Phantasie beflügeln. Tief beeindruckt ihn ein ungewöhnlich langer Film, der die Geschichte von zwei herumstromernden, von Zuhause entlaufenen Jungspunden erzählt, die als Fleischjäger bei einer französischen Bootsmannschaft anheuern, mit einem alten, erfahrenen Trapper als Führer, einer stolzen und anmutigen Indianerprinzessin als Geisel sowie einer reichlichen Ladung Whiskey und Decken an Bord den langen Lauf des Missouri hochrudern, -segeln, -staken und -treideln, um dort oben, am Fuße des Felsengebirges, in den Jagdgründen der Schwarzfußindianer und rund zweitausend Meilen von der weißen Zivilisation entfernt, ihre Handelswaren gegen eine noch reichlichere Menge an Biberpelzen einzutauschen. Cornelius verlässt den Vorführraum, für immer gebannt von den dunklen Augen der schönen Indianerin Tealeye, deren Zauber auch die beiden Freunde erlegen sind, die sich im Verlauf der abenteuerlichen Flussreise ihretwegen entzweit haben. Vom Filmgeschehen innerlich aufgewühlt, schwört sich der Junge, alles daranzusetzen, dereinst gleichfalls ein erfahrener Mann der Berge zu werden, ein von Wind und Wetter gegerbter Trapper, der seinen Schuss Pulver wert ist und niemals die Flinte ins Korn wirft. Er ahnt noch nicht, dass die Fähigkeit, fernab der Zivilisation in der Gesellschaft wilder

Weitere Kostenlose Bücher