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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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der französischen Legion, zu der auch Berber, Algerier, Marokkaner und etliche Rotspanier gehörten, in Brustbeuteln mit sich herum. Die bei der eingeschüchterten Landbevölkerung übel beleumundeten Legionäre, denen der Ruf vorausgeeilt war, dass sie sich andernorts an den Frauen, Töchtern, Schwestern und Cousinen der Besiegten vergangen hätten, vergolten allerdings die ihnen von Lena geleisteten Koch- und Nähdienste anstandslos und großzügig. Wenn ihnen aber danach zumute war, besonders nachdem sie ausgiebig den Spirituosen und Delikatessen aus Hitlers Vorratslagern zugesprochen hatten, pflegten sie auch ungeniert in die üppig bemalten, mit kostbaren Schnitzereien verzierten Schränke, Truhen, Wäscheschubladen und Kommoden der Bauern zu urinieren. Zum Ausgleich für die ihnen von den Dörflern angetane Unbill konnte sich Wilhelms Familie also eines kleinen Quantums ungeschliffen gehandhabter Gerechtigkeit erfreuen.
    Die neue Wohnung, die sie nun bezogen, lag nur ein paar Schritte von der alten entfernt, musste aber erst von Grund auf wiederhergerichtet werden. Durch das schrundige Haus war ein schwerer Blindgänger gerauscht. Durch den aufgerissenen Plafond konnte man direkt in den Himmel schauen, durch den zersplitterten Küchenboden, in dem ein entsprechend riesiges Loch klaffte, in die darunterliegende Wohnung; auch die Brandmauer zum ausgebrannten Nachbarhaus war stellenweise kaputt. Druckwellen ungezählter Bomben, die im nahen und weiten Umkreis eingeschlagen waren, hatten Fenster und Türen zerstört. Die meisten benachbarten Häuser waren weitaus schlimmer getroffen, sie lagen vollends in Trümmern.
    Für Wilhelm war die Reparatur der Wohnung kein allzu großes Problem; zumal schon sein leiblicher Vater Franz Seraph Zimmermeister gewesen war und er selbst sich auf verschiedene Bautätigkeiten verstand. Auch schien das handwerkliche Geschick verflossener Generationen auf ihn übergegangen zu sein, ein Umstand, der ihm die zu verrichtende Arbeit flott und leicht von der Hand gehen ließ. Obendrein kamen ihm nun die vielfältigen Bekanntschaften aus seiner Vergangenheit als Gastwirt zupass, denn ohne über einen immensen Vorrat an amerikanischen Zigaretten zu verfügen, gelangte er dennoch unverzüglich an das zum Ausbau benötigte Material.
    Die neue Behausung hatte einen vorstehenden Balkon, der den Gesichtskreis zu erweitern half durch einen weiten, in der Ferne durch eine Reihe schlanker Pappeln kaum gehinderten Blick ins Offene, über die trogartige Senke der Heimgärten hinweg und über die daran angrenzende unbebaute Wiese, auf der einmal im Jahr ein Schäfer seine Herde weidete, bis hin zu dem dunkelroten Backsteinbau des stillgelegten israelitischen Gottesackers unterhalb des Isarhangs und noch weit darüber hinaus.
    Als Kind hat Cornelius davon geträumt, über die eiserne Brüstung des mit samtigen Stiefmütterchen und roten Geranien geschmückten Balkons zu klettern, über die vorgespannten Wäscheleinen hinweg, und sich fallen zu lassen, die Arme ausgebreitet, die Luft mit den Händen nach unten schaufelnd, und kurz vor dem Aufprall auf den Boden wieder aufzusteigen, sich unendlich weit hochschraubend, und mit kräftigen, gemessenen Schlägen in einen berauschenden Flug überzugehen, über die abendlichen Gärten hinweg und über die Wiese, auf der er im Herbst oft mit dem Großvater einen gelben, rotgeschwänzten Drachen in den Himmel steigen ließ. In diesem Traum war nun Cornelius selbst ein unversehrter, schnurloser Drache mit mächtigen Schwingen, die ihn durch das schwindende Licht trugen – hin zu den in purpurnen Farben schillernden Wolken am westlichen Horizont.
    Einmal lässt er vom Balkon aus schockweise Maikäfer fliegen. Schwerfällige, unbeirrbare, mit Widerhaken versehene Ritter im glänzenden schwarzen Panzerschild, mit weißen Keilen prächtig verziert. Noch benommen von der Gefangenschaft, pumpen die trägen Brummer eine Weile auf seiner mit Käferkot befleckten Hand, mit der er sie nacheinander aus einem durchlöcherten Schuhkarton befreit hat, fahren ihre zarten, gefiederten Fühler aus, besehen sich mit verwunderten Knopfaugen die Welt, heben ihre gerippten, braun lackierten Flügeldeckel und schwirren dann ab, indes der Junge vor jedem Abflug in leierndem Singsang den alten unheimlichen Vers wiederholt, den ihm seine Großmutter vorgesagt hat:
    flieg, maikäfer, flieg!
der vater ist im krieg,
die mutter ist in pommerland,
pommerland ist abgebrannt.
flieg,

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