Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
als falsch erweisen oder unversehens abhanden kommen. Schließlich birgt jeder Weg die Gefahr, auf der Strecke zu bleiben oder irr zu gehen; mitunter führt er einen auch nur im Kreis herum. Überdies scheint es auf der Welt deutlich mehr krumme als gerade Wege zu geben. Je klarer Cornelius sieht, dass harte naturwissenschaftlich-technische Lehren, die man in weiche Schülerhirne trichtern will, weder seinem Interesse noch seiner Begabung entsprechen, desto mehr verfliegt die frohe Begeisterung über die Entdeckung der Zukunft, desto tiefer sinkt der Lebensmut und macht alsbald einer anhaltenden Ernüchterung Platz. Mit den Fächern Latein, Mathematik, Physik und Chemie werfen sich turmhohe Klippen auf, an deren schroffen Felsen ein verzagt am Kurs zweifelnder Cornelius Jahr um Jahr zu zerschellen droht.
Die Bleigriffel und die Fleißbildchen, die Schönschreibhefte und der Tintengeruch – mitsamt der Prügelstrafe gehört nun der ganze abgestandene Mief der Volksschule der Vergangenheit an. Nachsitzen heißt jetzt Arrest. Moderner Sichtbeton, rote Klinkerverblendung, große Glasflächen, taubenblaue Fußböden, lange Korridore, helle, zweckmäßig ausgestattete Unterrichtsräume, geräumige Chemie-, Biologie- und Physiksäle mit ansteigenden Bankreihen, eine hohe, lichte Turnhalle sowie ein schmucker Musik- und Zeichenpavillon geben die glatte, nahezu transparente Kulisse ab für beängstigend wirklichkeitsnahe Traumfolgen, die ihn ein Leben lang unvermindert heimsuchen werden. Für eine unendliche Reihe sinnlos vertaner Tage dient das nüchterne Gebäudekonglomerat einem Trauerspiel als Bühne, einem öden Stück, dessen unschwer abzusehender Ausgang eine Schar zielstrebiger Sieger und eine nicht geringe Anzahl auf der Strecke gebliebener Verlierer verzeichnen wird. Jeder für sich und die Schulleitung gegen alle. Wer merkt da schon beizeiten, dass eine glückliche Fügung darin liegen mag, öfter mal zu straucheln, heil abzukommen vom stracks festgelegten Kurs?
ein böses traumgeschick treibt ihn immer wieder durch ein wirrsal endloser sich vielfach verzweigender wege und flure die flucht verläuft entlang gewundener gewölbegänge gesäumt von verrußten kellerabteilen worin müßige prüfer darauf warten ihn kirre zu machen während nebenan der fest bestallte henker lauert oft endet sie an entriegelten notausgängen die in den kleinen pausenhof führen manchmal ist der ausgang aber auch mit mürben ziegeln vermauert meist trägt ihn der gehetzte lauf jedoch weiter führt eine etage treppauf oder treppab einmal links- einmal rechtsherum und dann wieder eine strecke geradeaus eine ungeheure angst im nacken wird eine unzahl verwaister hausschul- kontor- und amtsflure dachböden gebäudetrakte säulengänge und knarrende stiegenhäuser durcheilt ohne eine der pforten türen ohne einen der verschläge zu öffnen geht es hurtig vorbei an still lauernden heizungskellern wuchtigen kleiderschränken dienstwohnungen deren besitzer schon tot sind an menschenleeren bürofluchten kanzleien klassenzimmern warteräumen aulen turnhallen und laboratorien an holzgetäfelten nischen finsteren zellen und leeren abstellkammern
Unter den Erstklässlern der Oberrealschule ist Cornelius einer der mittlerweile rar gewordenen waschechten Vorstädter. Zu Beginn des Schuljahrs forscht der Klassenlehrer die Neulinge nach dem jeweiligen Beruf ihrer Eltern aus; arglos gibt Cornelius den Beruf seines Großvaters an: Kraftfahrer. Kaum dass er das Wort ausgesprochen hat, prustet die Klasse los, erntet der Junge ein schallendes Hohngelächter. Beschämt senkt er den Blick vor ringsum feixenden Visagen. Die Väter der standesbewussten Rotzlöffel, die sich über seine Herkunft lustig gemacht haben, sind fast ausnahmslos Techniker, Ingenieure oder kaufmännische Angestellte, etwas Besseres allemal als Fabrikarbeiter oder Handwerker. Einer der frisch in die Nachbarschaft gezogenen Schüler ist auffallend ehrgeizig und hochnäsig; da beide Jungen in derselben Straße wohnen und so denselben Schulweg haben, holt er Cornelius anfangs von Zuhause ab. Eines Morgens dringt er dabei bis in die Wohnung vor und sieht dort den Großvater im Unterhemd am Tisch sitzen. Nachdem sie das Haus verlassen haben, erkundigt der Lackaffe sich scheinheilig bei Cornelius:
Wer ist denn der Grattler, der bei euch in der Küche hockt?
Im langen Katalog der Verletzungen und Demütigungen, den Cornelius im wechselhaften Verlauf seiner Schuljahre noch zu erstellen hat, wird
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