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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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diese Beleidigung einen immerwährenden Spitzenrang einnehmen.
    Unter freiem Himmel, an den schrägen Bretterverschlag einer Streusandkiste gelehnt, tauscht Cornelius mit anderen Vorstadtgewächsen, gleichaltrigen Straßenjungen, mit denen er sich gut versteht, bunte Lux-Lesebögen und noch viel buntere Schundhefte: triviale Zukunftsromane und Wildwestabenteuer. Ungefragt gesellt sich zu ihnen ein glattes Milchgesicht aus einem der neu errichteten Wohnblocks. Der Knabe legt eine besonders eitle Herablassung an den Tag; im Gegensatz zu den tumben Vorstädtern kennt er sich aus in der weiten Welt, hat mit seinem vielgereisten Vater, einem selbstständigen Handelsvertreter, bereits alles Erdenkliche gesehen und erlebt, ist in Großstädten wie London, Paris und New York, am Grand Canyon, an den rauschenden Niagarafällen und weiß Gott wo gewesen. Es braucht nicht viel, und es dauert auch nicht lange, bis es zum Streit kommt und dem renommiersüchtigen Neuling mit Nachdruck bedeutet wird, sich gefälligst zum Teufel zu scheren. Der etwas zu barsch Abgewiesene trollt sich auch wider-spruchslos, kommt aber bald in Begleitung des mondänen Vaters wieder zurück. Der, hemdsärmelig und zornbebend, fackelt nicht lange, greift sich Cornelius heraus und schmettert ihm die geballte Faust aufs Auge, worauf dem Jungen eine Braue platzt und auf der Stirn sogleich eine groteske Beule schwillt. An dem ursprünglichen Streit und der Kränkung des arroganten Knaben hat Cornelius gar keinen herausragenden Anteil gehabt, es will ihn dennoch kaum verwundern, dass ausgerechnet er die blitzartige Vergeltung auf sich gezogen hat. Als sein Großvater noch ein »frecher Lausbub« war, hat auch ihm auf derselben Straße ein wildfremder Mann grundlos eine gepfefferte Maulschelle heruntergehauen. Der Rohling nahm wohl Anstoß daran, dass der Malefizbub, noch dazu an einem trüben, wolkenverhangenen Tag, leichtfertig ein lebensfrohes Liedchen gepfiffen hat.
    Gemessen an ihrem Dünkel und ihrem Ehrgeiz sind viele der Neuankömmlinge reichlich unbedarft, genauer gesagt, sind es unbelesene Flegel, denen es, bis auf wenige Ausnahmen, an Einbildungskraft gebricht. Cornelius hat zwar kein eigenes »Kinderzimmer« vorzuweisen und verfügt nicht über Taschengeld, in der biederen Wohnung seiner Großeltern hängt kein einziges Bild an der Wand und kein Bücherregal, sie hat auch nur einen Ausguss, der als Waschbecken herhalten muss, aber dafür hütet der Junge in den Tiefen seines Nachtkästchens einen sorgsam zusammengetragenen Schatz, einen kostbaren Besitz an vergilbten und ausrangierten Schriften, der ihm unschwer zu einem gediegenen Halbwissen verhilft, womit er bei den darüber oft bass erstaunten alten Lehrern punkten kann: Der
Kampf um Troja
und die
Odyssee
in einer Nachdichtung, das
Nibelungenlied
als Feldpostausgabe »für unsere Soldaten«, das Alte Testament, Scheherezades Geschichten aus
Tausendundeine Nacht, Tom Sawyer
und
Huckleberry Finn
, verschiedene
Lederstrumpf-
Bände,
Gullivers Reisen
, die
Schatzinsel, Robinson Crusoe
, die Romane von Jules Verne und Hans Dominik, die
Flusspiraten vom Mississippi
, das
Kajütenbuch
, die Opernlibretti von
Aida, Rigoletto, Tosca, Nabucco
und
Rienzi
, die
Argonauten, Wilhelm Tell, Huttens letzte Tage, Sinuhe, der Ägypter
, ein kleiner Band über den Sendlinger Bauernaufstand von 1705, als ›heimatliches Mosaik in Text und Bild‹ untertitelt,
Wildes heiliges Tibet
von Sven Hedin, eine illustrierte Geschichte des Deutschen Reiches, Knut Hamsuns Landstreicherromane, eine zerfledderte Geschichte des alten Rom, von Zigarettenfabriken und Margarinewerken herausgegebene Sammelbilderalben über Autos, deutsche Schutzgebiete und Zeppelinweltfahrten sowie ein kleiner Heftstapel von
Das Beste aus Reader’s Digest
, dazu noch allerlei abgelegter Ramsch, fleckige Fotografien und kolorierte Postkarten, die dem dafür Empfänglichen ein bildhafter Gruß aus einem wundersamen Anderswo sind. Oft im Dunkeln, mit funzliger Taschenlampe über seine Kostbarkeiten gebeugt, schafft Cornelius sich eine andere, eine bessere Dimension der Wirklichkeit, bevölkert er blaue Fernen mit Phantasiegestalten, mit Korsaren, Kosaken und Kannibalen, mit Rittern, Entdeckern, Eroberern, Vagabunden und Waldläufern. Das wichtigste Utensil dazu ist ein alter Atlas, den er stundenlang erforscht, mit dem Finger Flussläufe und Küstenlinien nachfahrend, Wüsten, Savannen und Hochgebirge durchmessend, sich phantastische

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