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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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Tiere und Menschen zu leben, so ziemlich das Letzte ist, was man künftig von ihm und seinen Altersgenossen fordern und erwarten wird.
    Nur spärlich sickert die Kunde von gewaltigen Ereignissen, die über die große Welt hereinbrechen, in die blassen Niederungen des Kindseins. Da ist die eines Abends ins Fenster gestellte Kerze, deren warmer Schein den hinter einem Eisernen Vorhang Not leidenden deutschen Schwestern und Brüdern beweisen soll, dass sie nicht vergessen worden sind. Die Angst vor dem baldigen Ausbruch eines Atomkrieges, die während der Kubakrise durch die Gespräche der Erwachsenen irrlichtert, sucht auch Cornelius heim und beschert ihm schreckliche Träume. Irgendwann eilt Tante Carla noch ungewöhnlich spät, längst schon war Schlafenszeit, über die Straße zur Wohnung ihrer Mutter, klingelt unten Sturm und ruft bereits im Treppenhaus ganz aufgeregt: »Chruschtschow ist gestürzt!« Cornelius wundert sich, warum so viel Aufhebens darum gemacht wird, wenn einer der ganz Großen stolpert und auf die Nase fällt. Der andere »große Mann«, John F. Kennedy, ist, nachdem er die amerikanische Präsidentenwahl gewonnen und die Berliner Mauer besucht hat, noch tagelang Gesprächsthema.
Ja mei, der Känädie
, bringt eine steinalte Greisin aus zahnlosem Mund hervor,
der Präsident schmeißts Hemd an d’Wänd
, und wackelt dazu auf der Veranda ihrer Gartenlaube mit kahlem Kopf. Fast noch wichtiger scheint den Leuten aber die elegante Frau an der Seite des jugendlichen Präsidenten zu sein.
    Als erster von Menschenhand geschaffener Erdtrabant beginnt der Sputnik seine befristete Bahn über den Himmel zu ziehen. In der Vorstadt stehen zur Nachtzeit mit Ferngläsern bewaffnete Menschen auf der Straße und den Balkonen. Auch Cornelius darf etwas länger aufbleiben, damit er den Kopf zurücklegen und in den Nachthimmel starren kann, um in der Sternenfülle womöglich einen Blick auf den Widerschein des künstlichen Satelliten zu erhaschen. Er bildet sich ein, ihn ganz deutlich gesehen zu haben.
    Nach und nach fügen sich die Splitter hie und da aufgeschnappter Eindrücke zu einem für Cornelius halbwegs verständlichen Film, zu dem Krieg und Kriegsgerüchte die unterschwelligen Bilder und Töne beisteuern. Die mit Fanfarenstößen eingeleiteten Szenen in »Fox’ tönender Wochenschau« sprechen eine unmissverständliche Sprache, oft genug werden den Krieg vorbereitende Handlungen gezeigt: Truppenparaden, schwimmende Flugzeugträger, Raketenabschussbasen. Der glatte Firnis eines eintönigen, von kleinen Sorgen und praktischen Gegenständen erfüllten Lebens täuscht nur ungenügend über das eigentliche und immer wiederkehrende Grundthema hinweg, die vor rot glühendem Hintergrund auf Gedeih und Verderb miteinander ringenden Figuren von Krieg und Frieden, das gefährdete Gleichgewicht des Schreckens, den allzeit drohenden Ausbruch der Gewalt, den plötzlichen Umschlag von Kalt zu Heiß, ein arg beunruhigendes Thema, von dem die Mehrheit der Menschen im Alltag ebenso stumpf absieht wie von den bunten Werbeplakaten auf den Litfaßsäulen, deren Botschaften nichtsdestotrotz nur allzu geläufig sind.
    Als Cornelius im durchsonnten Hausflur die Benachrichtigung von der erfolgreich bestandenen Aufnahmeprüfung in die höhere Schule in Händen hält, haben sogar die geweißten Wände über dem speckigen, erbsgrün gestrichenen Ölsockel eine goldene Färbung angenommen. Gelöst atmet er auf, beschwingt, beinahe schwerelos tritt er durch die im Licht tanzenden Staubteilchen hinaus ins Freie und zugleich, wie er mit unerschütterlicher Gewissheit annimmt, in eine lichte Zukunft. Das in der Sonnenstunde gezeitigte Glück fasst er als einen bedeutsamen Wendepunkt in seinem Leben auf; in der unterbrochenen Gleichförmigkeit des Daseins erscheint noch einmal der verblassende Umriss einer Vergangenheit, die bereits abgetan ist, und vor ihm tut sich ein breiter Weg auf, der ungehindert ins Weite führt. Schlagartig begreift er, dass er im selben Augenblick, mit einem klar umrissenen Ziel vor Augen, bereits unterwegs ist. Ihn durchfährt ein ungeahntes Hochgefühl, eine Ekstase, der er immerwährende Dauer wünscht.
    Aber das Sprichwort vom flüchtigen Glück ist hartnäckig, und rücksichtslos pocht es auf das tyrannische Recht, als die einzig gültige, unumstößliche Wahrheit anerkannt zu werden. Es gibt einfach keine Gewähr dafür, dass ein einmal erkannter Weg auch der richtige ist, selbst das anvisierte Ziel mag sich

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