Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
während der Lena eine weitere Tochter gebar, Carlas Halbschwester Bertha. Was mochte Wilhelm dazu bewogen haben, seiner Gefährtin Lena noch so spät das Jawort zu geben? Trotz seines vorgerückten Alters musste Wilhelm nach dem Menetekel der Schlacht von Stalingrad zum Barras; es lag auf der Hand, dass er in Russland jederzeit den Tod gewärtigen konnte. Daher wollte er die Frau und das uneheliche Kind versorgt wissen. Im Gegensatz zu seinem gleichfalls zur Wehrmacht eingezogenen Bruder Franz, der irgendwo zwischen dem Don und dem Kubantal verschollen blieb, überlebte Wilhelm aber den Feldzug, der ihn noch im selben Jahr bis nach Smolensk und an den Dnjepr geführt hatte, und kehrte gegen Kriegsende äußerlich unversehrt nach Hause zurück. Als dann nach einer Reihe von Ehejahren das Enkelkind Cornelius auf die Welt kam, begannen die Großeltern eine Art Josephsehe zu führen und in getrennten Betten zu schlafen, die obendrein in verschiedenen Zimmern standen. Lena machte sich ihr Bett jeden Abend auf der Wohnzimmercouch zurecht, gegenüber der Nippesvitrine mit den bunten Glastieren, Blumenvasen aus Kristall, Weingläsern und Bastuntersetzern, während Cornelius und sein Großvater einträchtig nebeneinander im Ehebett schliefen. Zu dieser Zeit vermochte niemand mehr zu sagen, ob es den Eheleuten früher einmal vergönnt war, ein Liebespaar zu sein, keiner sah ihnen an, ob sie einander jemals wirklich begehrt haben.
Wilhelm geht es sehr zu Herzen, dass die eigene Tochter aus dem Haus verbannt ist, deshalb verschwindet er zuweilen für ein paar Tage und entzieht sich der gestrengen Beaufsichtigung durch das abweisende Gespann aus Ehefrau und Stieftochter. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er unbeschwerte Tage bei seiner Tochter verbringt, die angeblich im Norden der Stadt eine gutgehende Ausflugswirtschaft führt. Wenn er von seinen feuchtfröhlichen Ausflügen zurückkommt, ist er meist sturzbetrunken. Hilflos torkelnd, fast schon demütig, lässt er dann die mit giftigem Abscheu herausgezischten Vorwürfe der durch zermürbendes Warten bösartig gewordenen Frauen über sich ergehen. Unter fortgesetzten Beschimpfungen versuchen ihn Lena und Carla zu entkleiden, wobei sie ihm so lange mit Schimpf und Schlägen zusetzen, bis dem Gescholtenen endlich die rettende Flucht ins Schlafzimmer gelingt. Dorthin können ihm die aufgebrachten Frauen schlecht folgen, da sie unter keinen Umständen den Jungen aufwecken wollen. Der aber hat, durch die geräuschvolle Heimkehr des Großvaters hellwach geworden, längst die Ohren gespitzt und bang mitgehorcht, hat zuerst belfernde und keifende Stimmen wahrgenommen, das Klatschen von Schlägen und irgendwann einen dumpfen Aufprall. Danach geht die Tür auf, herein stolpert, einen Schwall abgestandenen Wirtshausdunst mit sich führend, der Großvater und lässt sich umstandslos ins Bett fallen.
Lena und Carla halten Wilhelm zwar vor, er sei mit alten Saufbrüdern ausgelassen durch mehr oder minder anrüchige Beizen gezogen, doch insgeheim wissen sie, dass er der Sehnsucht nach seiner leiblichen Tochter nachgegeben hat, und vermutlich ärgert sie das erst recht. Bis der letzte Tropfen ihres bitteren Grants zur Neige geht, nörgeln sie tagelang an dem armen Mann herum und kreiden ihm noch die nebensächlichsten, weit zurückliegenden Verfehlungen an. Den in ihren Augen hauptsächlichen Fehler, ungemein an der verstoßenen Tochter zu hängen, übergehen sie indes mit kaltem Schweigen. Wohlweislich hütet Wilhelm sich, ihrem abklingenden Zorn durch unbedachte Widerworte neue Nahrung zu geben, er verhält sich anstellig und lässt sich nichts zuschulden kommen. Sobald dann für längere Zeit Friede eingekehrt ist und der Haussegen halbwegs geradezuhängen scheint, nimmt er sich die nächste Auszeit und flieht zum wiederholten Mal die bedrückenden häuslichen Tatsachen.
Bis zur Rente steht Wilhelm in einem Baugeschäft als Kraftfahrer in Lohn und Brot. Auch seine Mutter Martha ist bei einem Bauunternehmer, der neben seinem Geschäft eine Reihe ansehnlicher Stadthäuser und Villen besaß, zuerst als Dienstmagd, dann als Haushälterin beschäftigt gewesen. Als der Baulöwe starb, hat er seiner Haushälterin, die er inzwischen geheiratet hatte, ein stattliches Vermögen hinterlassen, das aber in der Inflationszeit aufgrund verschwenderischer Lebensführung nach und nach verloren ging. Im Viertel hielt sich noch jahrelang das hartnäckige Gerücht, sie habe in ihrer Garage einen
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