Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
das spüren und sehen, selbst ein gänzlich abgestumpfter und gefühlloser Erwachsener könnte darüber stolpern. Das Rad der Zeit ist in Schwung geraten, und nun dreht es sich wieder knirschend und klappernd um die eigene Achse. Eine erste Ahnung davon hat Cornelius in den zurückliegenden Sommerferien bekommen, als verwegen anmutende Gestalten zwischen den Zelten und Bungalows eines Campingplatzes aufgetaucht sind, am Ufer eines südlichen Landsees, wo der Junge im Schlepptau seines Onkels Ludwig und seiner Tante Carla ein paar schul- und sorgenfreie Tage beim Baden verbracht hat. Bärtige Tramps, die sich, mit riesigen Rucksäcken bepackt, nach dem Abflauen eines Hagelsturms in die Urlauberidylle gewagt und ein Stück abseits unter den Steineichen und Olivenbäumen, giftigen Blicks angestarrt von den meisten und tunlichst gemieden von allen, ein winziges Zelt aufgebaut haben: wind- und wettergegerbte Vorboten einer anbrechenden neuen Zeit. Auf dem Heimweg über den Brennerpass begegnet er ihnen abermals: An der Salurner Klause hat sich ein Stau von Urlauberautos gebildet; langsam chauffieren sie an den beiden abgerissenen Tramps vorbei, die als Anhalter am Straßenrand stehen. Ludwig denkt nicht daran, sie mitzunehmen. Er nimmt die Erscheinung zum Anlass für einen Monolog über Autoversicherungen und Polizeiarbeit.
Auf dem Weg zum Zahnarzt kommt Cornelius im darauf folgenden Herbst an einer Menschentraube vorbei, die sich um eine kleinere Gruppe gebildet hat. Von zahlreichen Gaffern umringt, lagern Frauen und Männer zwanglos auf dem Boden vor der Baracke eines Schwabinger Schnellrestaurants, reichlich versehen mit Lambruscoflaschen, mit Gitarren, Schlafsäcken und Kochgeschirren. Die meisten wirken jung, aber es sind auch ein paar Ältere dabei. Die Okkupanten des Gehsteigs sehen genauso aus wie die Tramps vom Gardasee. Ihm dämmert, dass er hier die berüchtigten Globetrotter oder Gammler vor sich hat, deren umstrittene Lebensweise Gegenstand zahlloser Zeitungsberichte und Gerüchte ist. Fasziniert bleibt auch er in einigem Abstand stehen und hört die feindseligen und ungewaschenen Kommentare mancher Passanten, die sich über das Ärgernis ereifern, das diese mutmaßlich ungezähmten, angeblich vor Schmutz starrenden Menschen darstellten: Die erregte Rede, die neben blankem Hass auch verhohlenen Neid erkennen lässt, ist von verwahrlostem und arbeitsscheuem Gesindel, von Geschlechtskrankheiten und davon, was man zu Recht mit solchen Typen im Dritten Reich angestellt hätte.
Ungefähr zur selben Zeit kommt es in der Schule zur alljährlich obligatorischen Filmvorführung für die Klassen der Mittel- und Oberstufe. Schwarzweiße Dokumentarfilme werden dabei gezeigt, über ein Staudammprojekt in Tennessee, das den dort lebenden Menschen Elektrizität, Arbeit und Wohlstand bringen soll, und über die abenteuerliche Flucht einer Familie aus Ostdeutschland durch den Eisernen Vorhang in den freien Westen. Während der letztgenannte Streifen läuft, werden in den hinteren Reihen, dort, wo die älteren Jahrgänge sitzen, empörte Rufe laut: Propaganda! Die jüngeren Schüler tuscheln aufgeregt, die beunruhigten Lehrer recken ihre Köpfe und versuchen, die Störer ausfindig zu machen.
Unerhörte und zugleich tief vertraute Rhythmen und Klänge finden Eingang in Cornelius’ Ohren und brechen nebenher das Kerngehäuse seiner Seele auf. Unerhört, urteilen auch die Alten, die aufgebracht sind, weil sie weder
be
noch
bop
kennen wollen und neben den alten, von Blasorchestern gespielten, schmissigen Märschen nur ihre genauso überkommenen Schmachtfetzen gelten lassen, die ewigen Schurickelieder vom Chiantiwein und den Caprifischern, die feuchtfröhlichen Schunkelwalzer aus den Fachwerkkulissen der Fernsehlandschaften oder die süßlichen Operettenmelodien aus dem »Land des Lächelns« und dem »Zarewitsch«. Alles andere wird als schriller, aus dem Takt geratener Missklang empfunden und verächtlich abgetan.
Cornelius hat ein kofferförmiges Tonbandgerät ergattert, das zum Nabel seiner bescheidenen Welt geworden ist. Er darf nicht mehr bei den Großeltern wohnen bleiben, sondern muss in die Genossenschaftswohnung von Onkel Ludwig und Tante Carla umziehen. Der erzieherische Eingriff soll dabei helfen, seine gegen null abfallenden schulischen Leistungen wieder auf die Höhe zu bringen. Allabendlich wird nach dem Abendbrot der Esstisch in der Küche abgeräumt, ein Stück beiseite gerückt und ein Klappbett aufgestellt.
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