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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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verpfeifen oft genug hat er’s ja angekündigt cornelius’ bammel ist riesengroß er zögert das nachhausekommen solange hinaus wie es nur geht auf ihn wartet zwar das unvermeidliche donnerwetter weil er nicht wie vereinbart pünktlich zum abendessen daheim ist aber wenigstens ist heute die bombe nicht geplatzt ist der diebstahl noch nicht aufgeflogen er hat wohl ein gespenst gesehen oder einen anderen dort an der haltestelle der ihm verteufelt ähnlich sah dem alten drängenden quälgeist
    Cornelius ist vielleicht ein wenig zu befangen oder zu zart besaitet, um das abscheuliche Gemenge aus Kränkung, Rebellion und hündischem Gehorsam zu billigen, das wie auf Sparflamme unter der Anstaltsglocke glost. Da ist Bruckner, der im Militär- und Schuldienst verbrauchte Deutschlehrer, der aufgrund einer Kriegsverletzung ein verkürztes, steifes Bein nachzieht. Hinkend schreitet er zwischen den Bankreihen aufmüpfiger Schüler einher, das aufgeschlagene Lesebuch in der einen Hand, mit der anderen eine Strähne schütteren rotblonden Haares aus dem Gesicht streichend, mit feuchter Aussprache trägt er näselnd und lispelnd eine Ballade vor:
Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle bewahrt die kindlich reine Seele! … Sieh da, sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus!
Niemand hört auf den alten, versehrten Mann, der alle Tage in einem schäbigen, nach Mottenkugeln riechenden Straßenanzug steckt; sobald Bruckner die vordersten Bankreihen passiert hat, dreht sich der erste Scherzbold um und äfft ihn spuckend und grimassierend nach; sogleich kommt beifälliges Gelächter auf, das der Pauker zunächst stoisch zu ignorieren versucht; rasch wird aber die Unruhe allgemein, schaukelt sich hoch, und ein höllischer Lärm bricht los. Kein Allotria wird da getrieben oder harmloser Schabernack gespielt, sondern ein beispielloser Krawall entfesselt, den der arme Mann nicht zu bändigen weiß; tollgewordene Schüler rufen gemeine Schmähungen, werfen mit Kreiden, Schwämmen und Papierkügelchen um sich, tun und lassen, was ihnen gerade in den Sinn kommt.
    Bruckner verstummt irgendwann, seine Hände beginnen zu zittern, feurige Röte schießt in sein Gesicht, geschlagen hinkt er hinter sein Pult zurück, verstaut das Buch in seiner abgewetzten Ledertasche, verfestigt seine Gestalt zu Stein und wartet ab – zum wiederholten Mal gedemütigt, hasserfüllten, hysterischen Schülern zur Zielscheibe geworden –, bis der außer Rand und Band geratene Aufruhr abgeflaut ist. Cornelius schämt sich nicht nur für das üble Verhalten seiner Schulkameraden; er mag es auch nicht begreifen. Dieselbe erbarmungslose Meute duckt sich nämlich, ist restlos gespielte Aufmerksamkeit, sobald andere Pädagogen, solche vom furchtbaren Schlag, den Unterricht führen: Da gibt es zum Beispiel den drahtigen Mathematiklehrer, eine echte, unbedingten Gehorsam erheischende Autorität, oder den zum Sadismus neigenden Biologielehrer, ein souveräner Dompteur, der im stets makellos weißen Kittel vor der Klasse erscheint und gekonnt auf der Klaviatur der Schwächen und Talente seiner Knaben zu spielen versteht, skrupellos Demütigungen und Strafen austeilt, mit Vorliebe einzelne Opfer herausgreift, süffisant beschämt und die Bloßgestellten dann dünn lächelnd dem grausamen Spott des Kollektivs ausliefert.
    Cornelius verwünscht die Schule, der Ekel vor dem widerlichen Ort laugt ihn aus, er lähmt ihn und verursacht ihm Brechreiz; dagegen panzert er sich mit der größten Verachtung, zu der er fähig ist, und zu diesem Zweck kriecht er noch um ein Geringes tiefer in die Hülle seines weinroten Anoraks. Er hat sie über, die unterwürfigen und renitenten Schüler, er verachtet sämtliche Pauker, mögen sie nun lächerliche Schießbudenfiguren sein oder unnahbare Halbgötter. Mit finsterer Entschlossenheit weigert er sich, in eine unfassbar bösartige, gedanken- und gefühllose Welt einzutreten, die sich allem Anschein nach – mitten im Frieden – in einem pausenlosen Kriegszustand befindet. Mit einer derart niedrigen und gemeinen, von allen guten Geistern verlassenen Chose wird er sich niemals anfreunden können, darin will er, das schwört er sich, künftig nicht einmal eine Nebenrolle spielen. Sollen darin doch die anderen vorwärtskommen und über Leichen gehen dabei!
    Doch zugleich spürt er, wie diese harte, grausame und verbiesterte Welt sich im Übergang befindet. Die Anzeichen sind deutlich und überall mit den Händen zu greifen. Fast ein jeder kann

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