Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
erschütterte und in Harnisch gebrachte Tankred, für den sich die proletarischen Rocker von vordem geachteten Rebellen in brutale Nazischläger verwandelt haben, wird mit Müh und Not beschwichtigt – zum Glück hat er wenigstens keinen seiner gefürchteten Anfälle bekommen –, und für ein paar Tage kann das Fest in der sturmfreien Bude noch unvermindert weitergehen.
Bevor die Stiefeltern aus dem Urlaub zurückkommen, hilft ihm Tankred dabei, die schlimmsten Spuren in der mit gründlicher Wollust entweihten Wohnung zu beseitigen. Anschließend stopft Cornelius die wichtigsten Bücher und wenigen Habseligkeiten, die ihm etwas bedeuten, mit den allernötigsten Klamotten in einen Koffer. Den schweren grünen Ledermantel seines Onkels lässt er auch noch mitgehen. Ein knapper Blick zurück auf das besudelte Ehebett, und sie brechen, ohne deswegen reumütig zu werden, gemeinsam auf in die grimmig kalte Winternacht. Nur wenn er an die von ihm hinters Licht geführten, verlassenen Großeltern denkt, sticht es ihn in der Brust, und er kämpft gegen aufsteigende Tränen an.
Am Stadtrand warten sie im Schneegestöber an einer desolaten Haltestelle auf den nächsten Bahnbus. In der Nachmittagsdämmerung wird er sie zu dem unscheinbaren Vorort bringen, wo der sagenumwobene Kommunardenkeller zu finden ist. Den beiden Abenteurern schwant bereits, dass sie im Grunde viel zu spät aufgebrochen sind, denn mit dem vergangenen Sommer sind auch die fröhlichen Tage der Kommune passé.
Den ganzen Herbst über haben die Führungsgenossen der Schülergruppe Anstalten gemacht, ihren Anhang einer der drei oder vier Kaderparteien zu vermachen, die aus dem Humus der Revolte emporgesprossen sind. Organisierte Theoriebildung, Klassenanalyse und leninistischer Parteiaufbau heißen die scharfen Waffen, mit deren Hilfe der zähe Kampf um die Aufhebung des Kapitalismus gegen
das parlamentarisch entpolitisierte Bewusstsein der lohnabhängigen Massen
aufgenommen werden muss. Ab sofort handelt es sich nicht mehr darum, das Leben augenblicklich zu verändern, ab sofort wird mit der erforderlichen Disziplin gehandelt und abgerechnet mit der revolutionären Ungeduld. Wildere Vögel sind da längst ausgeflogen und haben sich in alle Winde zerstreut. Manche haben auf der Suche nach dem verlorenen Einklang eine unvorhersehbar lange Reise angetreten, manche hingegen sitzen nur müßig im Straßencafé und warten nicht mehr darauf, dass etwas passiert, sondern dass die Zeit vergeht.
Ein gesetzter Herr, vom Typ Studienrat, der im Bus vor den beiden Jungen Platz genommen hat, schnappt einige Fetzen ihrer Unterhaltung auf. Genervt vom vorwitzigen Gebrauch des marxistischen Jargons durch die augenscheinlichen Grünschnäbel, dreht sich der mutmaßliche Pauker mehrmals kopfschüttelnd um und mustert sie ungehalten, bis er ihnen mir nichts dir nichts eine kleine Predigt hält:
Ihr habt nicht die kleinen Ohren der Fanatiker, hört mir also zu: Die dummen Ideen, die ihr da ohne rechten Verstand wiederkäut, sind zum einen abgestanden und zum anderen eben bloß Ideen, nie und nimmer zu verwirklichende Hirngespinste, selbst wenn ihr sie tausendmal materialistisch nennt und irgendwas von Basis und Überbau faselt. Blasse, anämische Ideen sind das, denen ab und an Blut zugeführt werden muss. Zwischen den Ideen und dem Leben gibt es nur Entsprechungen, ansonsten klafft ein Spalt dazwischen, der nicht überbrückt, höchstens mit Kadavern aufgefüllt werden kann. Merkt euch meine Worte, sonst werdet ihr verheizt werden, wie auch wir damals verheizt worden sind, als man uns die besten Jahre gestohlen hat
. Mürrisch setzt er noch hinzu:
Wenn ihr euer Boot mit Marx- und Engelsköpfen trimmt, werdet ihr nicht sehr weit damit segeln können, aber wenn ihr euch unbedingt mit Ballast beschweren wollt, dann gebt euch doch lieber mit dem Strukturalismus ab, damit wärt ihr wenigstens auf der Höhe der Zeit, in der ihr lebt
.
Die von der barschen Zurechtweisung des älteren Herren irritierten Jungen haben keinen Schimmer, ob der erwähnte Strukturalismus fortschrittlich ist oder reaktionär, aber sie werden es herausfinden, das schwören sie sich, und sei es nur, damit ihnen keiner mehr so leicht und ungestraft etwas vormachen und am frischen Lack ihrer Überzeugungen kratzen kann. Im Keller ist niemand, nur die Heizung dröhnt und rasselt. Die grob geweißten Betonwände und Fallrohre sind übersät mit den üblichen Sprüchen und Kritzeleien. Ein Aufkleber mit
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