Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Zentimeter Haarlänge und um jedes Stück Klamotten geführt werden, schon mehrmals hat er seinen geliebten Eskimoparka aus der Abfalltonne klauben müssen. Doch wenn er jetzt zurückschlägt, bricht der Damm und der Alte schlägt ihn wieder windelweich, am Ende kommt es noch zum Totschlag. Besser ist es abzuwarten, bis die ihm nun zutiefst verhassten Stiefeltern in den Winterurlaub gefahren sind, dann endlich wird er
türmen, stiften gehen, verduften, verschwinden, sich verdünnisieren, sich empfehlen, abrauschen, sich verzupfen, sich verkrümeln, sich aus dem Staub machen, ausreißen, abhauen, abtauchen, das Weite suchen
.
Nachdem ihm Ludwig mit der unbeherrschten Attacke die Brille ruiniert hat, sieht es einige Tage lang fast so aus, als sei damit seine brutale Herrschsucht erlahmt oder wenigstens vorübergehend zum Erliegen gekommen, denn auf einmal nimmt er es mit dem Einhalten der Pünktlichkeit nicht mehr so genau; Cornelius braucht ihm keine unverfängliche Lüge mehr aufzutischen, wo und mit wem er sich herumgetrieben und was für ein unerwarteter Zwischenfall ihn aufgehalten hat. Sie reden auch nicht mehr miteinander, gewöhnen sich die ohnehin zerfahrenen Gespräche ganz ab, vermeiden sogar sich anzusehen, denn während ihnen bei jeder Begegnung Zornröte ins Gesicht schießt, sprühen ihre Augen Hass, und daher gehen sie sich, soweit das bei der überschaubaren Größe der Wohnung überhaupt möglich ist, aus dem Weg. Es herrscht eine unheimliche Ruhe, die Ruhe vor dem Sturm.
Cornelius pflegt eine langjährige Brieffreundschaft mit einem etwa gleichaltrigen Jungen aus Turin. Kennengelernt haben sie sich in den Ferien am Meer, in einem touristisch aufstrebenden Badeort am Fuße der apuanischen Alpen. Marco war in einer unmittelbar am Strand errichteten Kolonie für Angehörige eines Großkonzerns untergebracht – in einem knochenweißen, weithin sichtbaren Rundturm aus Beton. Cornelius zeltete mit Onkel und Tante im Schatten eines nahen Pinienwäldchens. Ungeachtet der zwischen ihnen bestehenden Sprachbarriere und aller sonstigen Verschiedenheit verstanden sich beide Jungen auf Anhieb blendend, unermüdlich kletterten sie jeden Tag in Wind und Sonne auf der Suche nach Krebsen, Muscheln und Seesternen zwischen schartigen Felsbrocken herum, die als Wellenbrecher vor dem gelben Sandstrand lagen. Ein unbekümmertes Dioskurenpaar – Castor schwarz gelockt und Pollux blond gebleicht – unter einem stahlblauen Himmel vor dem langgezogenen, glitzernden Streifen des Mittelmeers.
Die Briefe, die sie sich seither schreiben, behandeln alltägliche Begebenheiten, das Fortkommen in der Schule, Geburtstage, Feiertagsausflüge ans Meer oder in die Berge, die jeweiligen Hobbys. Marcos Briefe an Cornelius werden für gewöhnlich von einem Polizeidolmetscher übersetzt, die Briefe von Cornelius an Marco von einem Übersetzungsbüro. Seit geraumer Zeit haben sie sich aber schon nicht mehr geschrieben – entweder, weil es nichts mehr zu sagen gibt, oder weil sie sich in den verwirrenden Zeiten der Pubertät viel zu viel Unsagbares zu sagen hätten, Dinge, die sich gegen eine Übersetzung sträuben. Für alle Fälle hat sich Cornelius Marcos Adresse gemerkt.
Nach einer langen Sitzung der Schülergruppe, die nicht mehr im Soziologischen Institut tagt, sondern inzwischen einen Raum im Studentenwerk der Universität in Beschlag genommen hat, kommt Cornelius auf dem Nachhauseweg zu später Stunde am beleuchteten Zeitungsaushang einer großen Tageszeitung vorbei. Unter den allerneuesten Nachrichten liest er von einem verheerenden Bombenanschlag auf eine Landwirtschaftsbank in Mailand, der unter den Bankkunden viele Todesopfer gefordert hat. Die Polizei gehe bereits gegen Splittergruppen der Neuen Linken vor. Cornelius glaubt keine Sekunde daran, dass Weltverbesserer, Leute seines Schlags also, für ein Massaker an Bauern verantwortlich sein könnten:
impossibile, un compagno non puó averlo fatto, l’autore di questo delitto tra i padroni bisogna cercar
. Aber er hält es für keine ausgezeichnete Idee mehr, sein Heil in einer Flucht nach Italien zu suchen.
Der Weihnachtsabend wird in finsterem Schweigen verbracht.
Stille Nacht, heilige Nacht
. Ludwig und Carla sprechen nur das Allernötigste. Cornelius wird geflissentlich ignoriert. Fast wäre es ihm lieber, er würde angeschrien. Aber nur noch ein paar Tage Geduld, dann ist es endlich so weit: Ludwig und Carla treten einen zweiwöchigen Skiurlaub an. Cornelius muss bei
Weitere Kostenlose Bücher