Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
eingefleischte Rassismus und Nationalismus, die entwürdigende Armut, die Atombomben, die Ausbeutung der Arbeiter und der von den Weißen unterdrückten Farbigen.
So leb denn wohl, liebenswürdige Astrid, und fahr dahin, flüchtige Sommerliebe!
Nach den Ferien stürzt sich der bislang nur von dumpfen Belehrungen und zynischen Vorschriften eingehegte, im gesunden Wachstum beschnittene und in sämtlichen Belangen des Lebens unerfahrene Cornelius mit Elan und Einsatzfreude in die revolutionäre Wühlerei. Das zeigt sich, als in einigen Industriebetrieben Warnstreiks ausbrechen. Auch bei der städtischen Müllabfuhr rumort es. Vor Schichtbeginn müssen deshalb an den Betriebshöfen Streikflugblätter verteilt werden. Am Vortag hat Cornelius einen ganzen Packen davon im Lokal des Republikanischen Clubs abgeholt. Mit der Tram ist er durch die halbe Stadt schwarzgefahren und prompt dabei erwischt worden. Da er am Abend bis spätestens sechs Uhr zu Hause sein muss, weil ihm sonst unter Umständen ein wochenlanger Hausarrest droht, hat er sich hetzen müssen und ist, ohne auf die uniformierten Kontrolleure zu achten, in die nächstbeste Tram gestiegen. Nachdem er es geschafft hat, die Flugblätter unauffällig in die Wohnung hineinzuschmuggeln, besteht nun die nächste Hürde darin, am nächsten Morgen, vor Tau und Tag, ungesehen damit wieder herauszukommen. Zum Glück liegt die Wohnung im Parterre, was die Ausführung des Vorhabens beträchtlich erleichtert.
Als nach einer zerquälten, im Halbschlaf verbrachten Nacht die Stunde des Aufbruchs geschlagen hat, zieht er möglichst geräuschlos die Küchenjalousie hoch, entriegelt und öffnet vorsichtig die Fensterflügel, klettert über das Fensterbrett und hangelt sich mit dem Packen Flugblätter vorsichtig auf den Asphalt hinab. Noch bevor die Amseln ihr morgendliches Konzert anstimmen, macht er sich auf den kürzesten Weg zum nächsten Betriebshof der streikwilligen Müllwerker. Die meisten Ladengeschäfte sind in dieser kühlen Stunde noch geschlossen, die Straßen unbelebt. Unheimlich abweisend ruhen in sich die Häuserfronten der Vorstadt. Vor dem Werksgelände verteilt er den Streikaufruf an die Kollegen, die sich überwiegend zurückhaltend geben. Es gibt ein paar lautstarke Motzer, aber genauso viele klopfen ihm auch anerkennend auf die Schulter, muntern ihn sogar mit ein paar zustimmenden Worten auf. Nachdem er den Packen losgeworden ist, hastet er schnurstracks zurück durch die allmählich erwachende Vorstadt. Eine knappe Minute bevor seine Stiefeltern aufgestanden sind und mit ihrer Toilette begonnen haben, steigt er unentdeckt durchs Fenster zurück, lässt behutsam die Jalousie wieder herunter und schwingt sich außer Atem in sein Bett.
Als er wieder einmal frühmorgens vom Betriebstor nach Hause kommt, diesmal nach dem Verteilen der
Kommunistischen Arbeiterzeitung
, erwartet ihn an seinem provisorischen Nachtlager bereits ein hintergangener und daher doppelt erboster Wächterengel. Das unvermeidliche Rattern und Ratschen der Jalousie hat Tante Carla alarmiert. Um ihren Gatten nicht zu wecken, macht sie dem Jungen keine laute Szene, nur geflüsterte Vorhaltungen, und sie verpetzt ihn auch nicht. Dennoch ist ihm damit ein patenter Ausweg genommen, den er gelegentlich auch in Anspruch genommen hat, um sich mit den Nachtschwärmern unter den Genossen seiner Basisgruppe zu treffen. Im nahen Park gegenüber dem alten Judenfriedhof versprachen sie sich in brüderlich geteilter Ohnmacht eine gemeinschaftliche Zukunft jenseits von Schule und Elternhaus, plauderten miteinander, die Themen Weiber und Fußball galten in stillschweigender Übereinkunft als abgedroschen und abgetan, in edler Einfalt über Dostojewskij und Marx, Freud und Marcuse.
Notgedrungen muss künftig der Gang zum Verteilen der Flugblätter und Zeitungen durch die Vordertür angetreten werden. Eines Morgens erwischt ihn Ludwig im Flur, wie er sich gerade mit einer Tüte voller Flugblätter für die Vietnamkampagne davonstehlen will, und schlägt ihm nach einem kurzen Wortwechsel die geballte Faust ins Gesicht, woraufhin die Nickelbrille des Jungen zu Boden fällt und bei einem kurzen Gerangel zertreten wird. Im nächsten Moment fordert ihn Ludwig auf, gefälligst zurückzuschlagen, aber Cornelius hebt nur die zerbrochene Brille auf und wendet sich wortlos ab. Er hat die Schnauze buchstäblich gestrichen voll.
Das Brillengestell hat ihn harte und zähe Kämpfe gekostet, ebenso harte, wie sie um jeden
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