Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Karawansereien der gestrandeten Müßiggänger, Sinnsucher und Ausreißer, in denen unter den Augen von Polizeispitzeln mehr oder weniger offen mit Drogen gehandelt wird. Er begegnet den Seminarmarxisten der Roten Zellen, den sich proletarisch gebenden Genossen der Arbeiterbasisgruppen, den revolutionären Praktikern der Südfront, den undogmatischen Linken vom K.O.-Rat, den Bolschewisten der Gruppe »Oktoberland«, die in ihrem Stützpunkt nebenher einen Posten schwerer finnischer Militärmäntel verhökern, und da er keine Angst vorm schwarzen Mann hat, traut er sich nachts auch alleine nach Haidhausen, um im
Birdland
Jazz zu hören. Als ihn jemand wie selbstverständlich, ohne im Geringsten dabei zu zögern, mit Genosse anspricht, fühlt er sich anerkannt, augenblicklich eins mit sich und unauflöslich dem entrechteten Teil der Menschheit verbunden.
Im
Café Europa
, einer obligatorischen Station auf dem Hippietreck nach Asien, oder, wenn die Götter es wollen, geradewegs ins erleuchtete Wassermann-Zeitalter, wird er von Eingeweihten über den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen abgefeimten Pushern und vertrauenswürdigen Dealern aufgeklärt, lernt geduldig, wie man aus Tabak und Papier fingerfertig Zigaretten dreht und gleich noch, nachdem er diese Technik eher schlecht als recht beherrscht, wie man es möglichst fachgerecht anstellt, einen dreiblättrigen Joint mit Pappfilter zu bauen. Mit haarsträubender Verwunderung nimmt er auf, dass dem schönen Geschlecht nicht mehr wie einst der Hof gemacht wird, in den hippen Kreisen gehört es vielmehr zum guten Ton, Frauen mit unziemlichen, kaum druckreifen Ausdrücken zu belegen, von denen Votze vermutlich der hässlichste und
chick
noch der harmloseste ist. In einem entrückten Zustand, in dem sich Geistesgegenwart und Trance die Waage halten, schreibt er an einem runden Lokaltisch sein erstes und für alle Zeiten bestes Gedicht und schenkt es einer hochgewachsenen, maliziös lächelnden, bleichen Schönheit mit langsträhnigem Blondhaar, die ihn aus verschleierten Augen anblickt, während ringsum die Heroindealer und Junkies mit ihrem Lieblingsspiel beschäftigt sind, einer Art Reise nach Jerusalem: linken und gelinkt werden.
Gottes Wort und Junkiestreit, beides währt in Ewigkeit
. An den Tischen wird ein eigentümlicher Jargon gepflegt, der sich aus einem kargen Wortevorrat speist, aber fast allen verdammten Lebenslagen gerecht wird – ein ewiges
Checken, Laufen, Bringen & Flippen, Auf-den-Trip-Schicken & Auf-den-Horror-Kommen
, ein munteres
Abgefahren-, Abgefuckt-, Abgespaced-
und
Breit-, Cool-
oder
Uncool-Sein
.
Far out
. Auf dem Trottoir vor dem Eingang stehen sich oft den ganzen Abend lang GIs aus der McGraw-Kaserne die klammen Beine in den Bauch, pulkweise spechten sie in der beißenden Kälte auf
the man with lovegrass in his hands
.
Einen Riesenbammel hat er vor Harvey, einer an den Rollstuhl gefesselten lokalen Berühmtheit, der höchster Respekt gebührt. In seinem Gefährt war Harvey mit zur Stelle, als am Tag nach dem Attentat auf Rudi Dutschke um jeden Preis die Auslieferung der Springer-Zeitungen verhindert werden sollte:
Heute Dutschke
–
morgen wir!
Bei dem Geplänkel zwischen der Polizei und den Demonstranten am Buchgewerbehaus ist ein Blockierer ums Leben gekommen und ein Pressefotograf. Harvey terrorisiert oft und gern seine Umgebung. Gelegentlich rastet er aus, gleitet im Kaffeehaus vom Rollstuhl und windet sich am Boden. Ahnungslose, die ihm beistehen wollen, beschimpft er dann aufs Gröbste, bis auf die Straße hinaus verfolgt die Flüchtenden sein irres Lachen. Seine Gage verdient Harvey als Statist in billigen Gruselfilmen.
In der Kunstakademie kommt es zu einer stillen Begegnung zwischen dem Monster und dem Jungen. Cornelius will sich aus dem Koffer, den er in einem der Ateliers abgestellt hat, frische Wäsche holen, und merkt, dass er nicht allein ist in dem hohen Raum. Tatsächlich parkt der berüchtigte Rollstuhl hinter einer Staffelei, auf Harveys bresthaftem Brustkorb ruht der schwarze Lockenkopf, aber seine Augen sind zu: Der alte Haudegen schläft sanft den Schlaf des Gerechten. Mit einem Mal ist Cornelius’ Angst vor ihm verflogen, vorsichtig durchquert er den Raum, wechselt ohne Hast die Klamotten und empfiehlt sich wieder auf leisen Sohlen.
An mehreren Abenden hintereinander besucht Cornelius eine Veranstaltungsreihe persischer, griechischer, türkischer und iberischer Oppositioneller, die gegen die Diktaturen in
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