Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
ihren Heimatländern ankämpfen. Untereinander sind sie hoffnungslos zerstritten, sie sind sich so spinnefeind wie die russischen und chinesischen Grenztruppen, die sich am Ussuri blutige Gefechte geliefert haben. Hier Revisionisten, da Antirevisionisten, aber beide Fronten vereint im Kampf gegen Trotzkisten und Anarchisten. Im
Arri-Kino
sieht Cornelius zum ersten Mal Eisensteins Hymnus auf die Oktoberrevolution und nimmt irritiert auf, wie ein Raunen durch den Saal geht und schnauzbärtige Genossen erregt gestikulieren, als Trotzkis Gestalt über die Leinwand flimmert.
Um die großen Konsumtempel wie die
Schauburg
und das
Cittá 2000
schlägt er einen großen Bogen. Auf dem Gehsteig der wegen des U-Bahn-Baus aufgebrochenen Leopoldstraße lungern vor der
Picnic
-Baracke immer noch ein paar verspätete Gammler herum. Wenn er jetzt an ihnen vorbeigeht, hat er das Gefühl, dass auch er ein bisschen dazugehört, obwohl ihn inzwischen die Weltgeschichte umtreibt und er es immer noch nicht fertigbringt, Passanten um Geld anzuhauen.
Jeden Tag überwindet er seine Angst davor, von der Polizei als Ausreißer aufgegriffen und nach Hause eskortiert zu werden. Jeden Tag betritt und verlässt er das Schulgebäude durch einen Hintereingang. Wider alle Vernunft fühlt er sich während des Unterrichts vor Zugriffen gefeit. Vom Klassensprecher, der für den dafür verantwortlichen Lehrer den Krankenstand überprüft, hat er erfahren, dass ihn seine Großeltern krankgemeldet haben. Dass er trotzdem regelmäßig in die Schule geht, steht zwar dazu im Widerspruch, aber zu seinem Glück ist das höheren Orts nicht aufgefallen. Er ist halt wieder gesund, und der Klassensprecher ist ihm gewogen und hält dicht. Zumindest weiß er nun, dass vorerst noch niemand aus der Familie die Schulleitung verständigt hat und dass ihn deshalb auch keiner hinter der Schulbank suchen wird. Eher kann er sich vorstellen, dass Ludwig sich demnächst in der Kluft eines Ablesers der Gas- und Stromwerke Zutritt zu Wohnungen und Wohngemeinschaften verschaffen wird, von deren Bewohnern er denkt, sie könnten den abgängigen Neffen bei sich aufgenommen haben. Etwas in der Art wäre ihm durchaus zuzutrauen, Cornelius kennt die Vorgehensweise aus Ludwigs Polizeigeschichten.
Schulfreunde, denen sein Vorgehen imponiert, stellen ihn ihren Eltern vor und verschaffen ihm damit warme Mahlzeiten. Von einer mitleidigen Seele bekommt er eine wärmende Felldecke geschenkt. Der Verkauf von Ludwigs altem Ledermantel bringt ihm einen willkommenen Zwanzigmarkschein. Fröstelnd übersteht er eine unendlich lange und kalte Winternacht auf einem Treppenabsatz vor dem verriegelten Speicher eines Wohnhauses, wohin er sich über bedenklich knarzende Stiegen hinaufgeschlichen hat …
now, little boy lost, he takes himself so seriously, he brags of his misery, he likes to live dangerously
… Ansonsten findet er sich fast jede Nacht im Keller ein, weit draußen vor den Toren der Stadt, oft in Begleitung einer zwei, drei Jahre älteren Genossin, in die er sich hoffnungslos verliebt hat.
Viele Nächte hindurch ergeht es ihm wie einem mit Fußtritten traktierten Hund, da ihn die Angebetete abweist und danach ungeniert, quasi vor seinen Augen und Ohren, mit Hartmut schläft. Stammelnd hat er ihr seine Liebe gestanden, sie aber will nichts von ihm wissen, vielleicht will sie ihn auch nicht der schwärmerischen Vorstellung berauben, die er sich von der wahren Liebe macht. Was Cornelius im Kellerabteil vom hastigen Beischlaf mitbekommt, stößt ihn allerdings ab. Den umstandslosen Fick hält er für eine billige Triebabfuhr, die herzlose Befriedigung einer Notdurft. Trotzdem erleidet er Tantalusqualen, und da er sich mit der traurigen Situation nicht abfinden kann, spielt er zu Hartmuts großem Verdruss unentwegt dasselbe Lied, das Lied aus dem weißen Beatlesalbum, in dem John Lennon zwar von der Revolution singt, aber auch davon, dass Leute, die mit Abbildern des Vorsitzenden Mao herumliefen, es sich mit allen Gutwilligen verscherzen würden.
Irgendwann wird es dem von Cornelius’ kindlicher Eifersucht genervten Hartmut dann doch zu viel. An einem eisgrauen Sonntagmorgen im Februar schaufelt und kratzt er das eingeschneite Taxi frei und fordert den aus der Haustür tretenden Jungen zum Einsteigen auf. Noch bevor er sich über das Lenkrad beugt und den Wagen startet, eröffnet er ihm ohne Umschweife, dass er ihn nun, zu seinem eigenen Besten, zu seiner Mutter bringen werde, die, wie er
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