Weg der Träume
Mit einem einzigen Anruf konnte er sich rächen.
Theoretisch. Aber was, wenn bei näherer Betrachtung die Lösung nicht die war, die er sich immer ausgemalt hatte? Was, wenn der Schuldige kein Betrunkener war, kein Feind, und wenn keine Fahrlässigkeit im Spiel war? Was, wenn es ein Junge mit Pickeln und Baggy Pants und dunkelbraunen Haaren war, der verängstigt und geknickt vor ihm stand und schwor, dass niemand diesen Unfall hätte vermeiden können?
War die Lösung dann immer noch von Bedeutung?
Wie sollte man so eine Frage beantworten? Sollte er die Erinnerung an seine Frau und das Unglück der letzten beiden Jahre als Gerüst nehmen, dann seine Verantwortung als Ehemann und Vater und seine Pflicht als Gesetzeshüter hinzufügen und daraus eine schlüssige Antwort zimmern? Oder sollte er von der Summe der bedenkenswerten Aspekte das Alter, die Angst und die offenkundige Qual des Jungen abziehen, so wie seine Liebe zu Sarah, und das Ergebnis auf Null drücken?
Miles wusste es nicht. Wenn er Brians Namen vor sich hin flüsterte, hinterließ dieser einen bitteren Geschmack im Mund. Ja, dachte er, es war von Bedeutung. Es wird immer von Bedeutung sein, und er musste etwas unternehmen.
So wie er die Dinge sah, blieb ihm keine andere Wahl.
Mrs. Knowlson hatte die Beleuchtung brennen lassen. Sie warf einen gelben Schimmer über den Weg zu ihrer Haustür. Miles roch von Ferne den Rauch des Holzfeuers. Er klopfte, bevor er seinen Schlüssel in die Tür steckte und sie sachte aufstieß.
Mrs. Knowlson döste in ihrem Schaukelstuhl unter einem Quilt. Mit ihren weißen Haaren und den Falten kam sie Miles vor wie ein Gnom. Der Fernseher lief, aber er war leise gestellt, und Miles trat vorsichtig näher. Mrs. Knowlsons Kopf neigte sich zur Seite, und sie schlug die Augen auf, fröhliche Augen, die sich nie zu trüben schienen.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät komme«, sagte er, und Mrs. Knowlson nickte.
»Er schläft im hinteren Zimmer«, sagte sie. »Obwohl er versucht hat, wach zu bleiben.«
»Ich bin froh, dass er schläft«, sagte Miles. »Soll ich Ihnen noch in Ihr Zimmer helfen?«
»Nein«, sagte sie. »Seien Sie nicht albern. Ich bin alt, aber ich kann noch ganz gut krabbeln.«
»Ich weiß. Danke fürs Aufpassen.« Sie lächelte.
»Wie ging es ihm heute?«, fragte Miles »Müde war er. Und ein bisschen still. Er wollte nicht draußen spielen, deshalb haben wir Kekse gebacken.«
Sie sagte nicht ausdrücklich, dass Jonah traurig war, aber Miles wusste, was sie meinte.
Nachdem er sich noch einmal bedankt hatte, ging er ins Schlafzimmer und nahm Jonah auf die Arme. Der Junge regte sich nicht.
Miles trug ihn in sein Haus hinüber und brachte ihn ins Bett. Dann deckte er ihn zu, schaltete das Nachtlicht an und setzte sich auf die Bettkante. In dem bleichen Licht sah Jonah jung und verletzlich aus. Miles blickte zum Fenster.
Der Mond schien durch die Jalousien. Miles schloss sie ganz. Er zog die Bettdecke hoch und strich Jonah über die Haare.
»Ich weiß, wer es war«, flüsterte er, »aber ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Willst du es wissen?«
Jonah gab keine Antwort.
Nach einer Weile verließ Miles das Kinderzimmer und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er hängte seine Jacke in den Schrank. Auf dem Fußboden stand die Schachtel, in der er die Videos aufbewahrte, und nach kurzem Nachdenken trug er sie ins Wohnzimmer, stellte sie auf den Couchtisch und öffnete sie.
Er zog wahllos eine Kassette heraus und legte sie in den Videorekorder ein. Dann setzte er sich auf das Sofa.
Zuerst war der Bildschirm schwarz, dann flimmerte er, dann erschien ein klares Bild. Kinder saßen um einen Küchentisch und zappelten aufgeregt. Ihre kleinen Arme und Beine flatterten wie Fahnen an einem windigen Tag. Andere Eltern standen dabei oder wanderten durch das Bild.
Es war Jonahs Geburtstagsparty, und die Kamera zoomte auf ihn. Er war zwei Jahre alt. In seinem Hochstuhl sitzend, hämmerte er mit einem Kaffeelöffel auf den Tisch und grinste bei jedem lauten Knall.
Missy erschien im Bild, mit einem Tablett voller Schokoladenmuffins. Auf einem steckten zwei Kerzen, und diesen stellte sie vor Jonah. Sie sang »Happy Birthday«, und die anderen Eltern stimmten ein. Innerhalb von Sekunden waren sämtliche Hände und Gesichter mit Schokolade verschmiert.
Es folgte eine Großaufnahme von Missy, und Miles hörte sich selbst ihren Namen rufen. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. Ihre Augen strahlten.
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