Wege im Sand
und der Unterhaltung ein Ende setzen. Doch zugleich drückte er ihre Hand mit aller Kraft, und sie erwiderte den Druck.
»Was hat sie dir erzählt?«, fragte Stevie.
Der Film ging weiter, wurde mit Ach und Krach fortgesetzt, der Ton musste sich gegen den Ostwind behaupten. Stevie konnte den stürmischen Nordostwind schon immer vor seiner eigentlichen Ankunft spüren – er wurde zunehmend stärker, roch nach Meer. Sie nahm die Gischt auf ihrem Gesicht, das Salz in der Luft wahr.
»Maddie sagte, dass Emma uns verlassen wollte.« Jacks Stimme klang gebrochen – oder wurde sie nur von dem Film übertönt? Stevie sah forschend in seine dunklen Augen und verstärkte den Druck ihrer Hand.
»Euch verlassen?«
»Sie führte ein Doppelleben«, erwiderte er, ohne auf die Frage einzugehen. »Ein Doppelleben mit allem Drum und Dran, von dem ich nichts ahnte.«
»Aber …«
»Nell darf nichts davon erfahren, niemals. Ich wünschte, mir wäre dieses Wissen erspart geblieben. Und Madeleine hätte geschwiegen.«
»Aber sie konnte doch nicht so tun als ob …«
»Ich wünschte, sie hätte es getan«, sagte Jack verzweifelt. »Deshalb mein Entschluss, mit Nell nach Schottland überzusiedeln. So weit weg wie möglich – doch jetzt …«
Stevie wartete mit angehaltenem Atem.
Jack schwieg, beugte sich vor, seine Lippen streiften ihre. Der Wind, der vom Meer herüberwehte, wurde immer stärker, übertönte den Film.
Nell kam zurück. Sie lieferte sich mit Peggy ein Wettrennen zur Decke, kuschelte sich auf die andere Seite ihres Vaters. Jack drückte Stevies Hand, dann wandte er Nell seine Aufmerksamkeit zu.
Der Rund-um-die-Uhr-Vater gewann die Oberhand. Er löste seine Hand aus Stevies, um Eiscreme aus dem Gesicht seiner Tochter zu wischen. Nell war gebannt von dem Film, von der sonderbaren Freundschaft zwischen Hayley Mills und dem Seemann. Sie schaute mit offenem Mund zu.
Am Ende des Films war die Hälfte der Kinder eingeschlafen. Nell war todmüde, aber noch wach. Sie legten die Decken zusammen, und Bay und Tara luden Stevie ein, sie bald zu besuchen. Sie bedankte sich und sagte zu.
Nell ging mit Peggy ein Stück voraus, machte schlaftrunken Pläne mit ihr für den nächsten Tag. Stevie nutzte die Gelegenheit, um Jacks Hand zu ergreifen. Sie wünschte sich, sie könnte ihm Kraft geben, den Mut, den er brauchte, um sich der Vergangenheit zu stellen.
»Ich sollte dir nicht sagen, worauf ich hoffe«, sagte sie.
»Aber ich möchte es hören.«
»Bleib hier«, flüsterte sie. »Geh nicht nach Schottland. Bleib.«
Er berührte ihre Wange, doch er schien seiner Stimme nicht zu trauen. Stevie wünschte beiden eine gute Nacht. Nell lief herbei, um sie zu umarmen. Und dann sah sie den Kilverts nach, wie sie über den Sandparkplatz zu ihrem Ferienhaus gingen, das dunkle Familiengeheimnis wie eine bedrohliche Gewitterwolke zwischen ihnen.
19. Kapitel
M adeleine bemühte sich, das Telefon nicht ständig anzustarren und darauf zu warten, dass es läutete.
Die wortlosen Anrufe ihres Bruders hatten ihr Hoffnung gemacht, mehr als alles andere im letzten Jahr. Hoffnung: Ihr war nicht einmal bewusst gewesen, dass es das war, was sie verspürte – den Hauch eines positiven Gefühls, verbunden mit dem Glauben, dem Gedanken, dass er vielleicht beim nächsten Mal den Mund aufmachen würde, dass sie die Beziehung zwischen ihnen vielleicht doch noch bereinigen konnten.
Doch dann hörten die Anrufe auf, und Madeleine fiel in ein schwarzes Loch, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Sie brachte kaum die Kraft auf, morgens aufzustehen. Sie musste sich selbst zu den kleinsten Verrichtungen zwingen. Beim Anblick einer Frau mit Emmas Haarfarbe brach sie in Tränen aus. Eines Nachmittags hörte sie während der Heimfahrt ein Lied im Radio, das sie an Jack erinnerte, und sie musste an den Straßenrand fahren, weil die Tränen ihr die Sicht raubten.
Chris machte sich Sorgen und versuchte sie zu überreden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Obwohl sie nach dem Unfall bei einem Therapeuten gewesen war, hatten ihr die Gespräche kaum geholfen. Ganz im Gegenteil: Wenn sie auf den Unfall zu sprechen kamen, wurden die grauenvollen Erinnerungen wieder lebendig; statt ihren Emotionen freien Lauf zu lassen, schien es, als wären sie ihr unter die Haut gegangen, eingesperrt in Körper, Geist und Seele. Das Heilmittel ihres Arztes gegen die Qualen bestand darin, ihr Denexor zu verschreiben – wodurch ihre Gefühle völlig
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