Wege im Sand
ausgeschaltet wurden und sie den Eindruck gewann, sich selbst fremd zu werden. Deshalb hatte sie auf das Medikament verzichtet – und auf den Arzt.
Eines Abends hatte Chris einen Artikel von einer Psychologin entdeckt, die in Providence praktizierte und an der Brown lehrte. Ihr Name war Dr. Susanna Mallory, und sie war auf die Behandlung von Traumata spezialisiert. Die Veröffentlichung trug den Titel »Tote aufwecken«, und sie begann mit Berichten von Unfallopfern, die körperlich genesen waren, aber ein Leben auf Sparflamme führten, das sich mit einem permanenten Wartezustand vergleichen ließ. »Lebendig, aber im Winterschlaf«, hieß es an einer Stelle.
Er hatte den Artikel auf Madeleines Schreibtisch gelegt, mit der Notiz: Diese Ärztin scheint eine andere Perspektive zu haben – vielleicht würde sie eher verstehen, was in dir vorgeht, was meinst du? Seine liebevolle, sanfte Art war so anrührend, dass sich Madeleine beinahe darauf eingelassen hätte. Sie hatte nicht viel Vertrauen in diese so genannten Therapien für ihr Problem – wie sollte eine Ärztin die Beziehung zu Jack kitten? Doch sie beschloss, sich die Geschichte näher anzusehen – mehr Chris zuliebe als um ihrer selbst willen.
Chris war wie eine Ein-Mann-Klinik, voller Liebe, Fürsorge und mit einer nahezu unerschöpflichen Geduld. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie bisweilen zu viel trank oder im Schlaf weinte oder dass sie ihre Arbeit nicht mehr bewältigte. Erst als sie sich nicht mehr aufraffen konnte, überhaupt einen Fuß vor die Tür zu setzen, und er sah, wie sehr sie litt, hatte er eingegriffen.
»Du bist doch sonst so gerne ausgegangen«, hatte er gesagt. »Ich weiß es. Aber seit geraumer Zeit hast du keine Lust mehr, essen zu gehen. Oder nach Newport oder Little Compton zu fahren … ganz zu schweigen vom Strand.«
»Mit Lust hat das nichts zu tun«, hatte sie ihn abzulenken versucht. »Ich bin nur müde.« Oder: »Ich habe Kopfschmerzen.« Oder, ihre persönliche Lieblingsausrede: »Mir machen die Wechseljahre zu schaffen. Ich leide unter Hitzewallungen und Knochenschwund.« »Das ist die Calcium-Phase«, hatte sie ihm mit einem zittrigen Lächeln erklärt. »Ich bin nicht mehr dieselbe wie früher …«
Er hatte mitgespielt, solange es ging – hatte ihr zugestanden, den Kampf auf ihre Weise zu führen, und begriffen, dass sie das letzte bisschen Kontrolle behalten wollte, das sie noch besaß – doch dann hatte er Klartext geredet. Das war rund einen Monat nach ihrem Besuch in Hubbard’s Point und zwei Wochen nach Jacks letztem Anruf.
Manchmal wusste sie nicht mehr genau, was sie zu bestimmten Tageszeiten gemacht hatte. Sie fühlte sich zutiefst niedergeschlagen, wie gelähmt. Nachts, gefangen in ihren Horrorvisionen, durchlebte sie den Unfall wieder und wieder. Sie hörte Emma schreien. Und dauernd kam ihr der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn sie auf die Brüstung der Newport Bridge klettern und springen würde …
Chris nötigte sie schließlich, Dr. Mallory anzurufen.
Die Praxis der Psychologin befand sich in Providence, in einem Backsteingebäude am Fox-Point-Ende der Benefit Street, mit Schwarzweiß-Fotos von Bergen und kahlen Bäumen an den Wänden. Sie war Mitte fünfzig, groß und schlank, mit fantastischen Haaren, einfühlsamen Augen und der ausgeprägten Gabe, aufmerksam zuhören zu können.
Madeleine redete. Als Geschäftsführerin wusste sie, wie wichtig es war, auf den Punkt zu kommen. Ohne Tränen oder erkennbare Gefühlsregung schilderte sie der Ärztin den Grund ihres Besuches: Sie fühlte sich innerlich wie erstarrt, antriebslos, zu was auch immer. Sie trauerte um ihre Schwägerin, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Madeleine hatte am Steuer gesessen. Ihre eigenen Verletzungen waren alles andere als lebensgefährlich gewesen. Eine Gehirnerschütterung und eine ausgerenkte Schulter.
Die Ärztin erkundigte sich nach den bisherigen Behandlungen und Therapiemaßnahmen.
Mehrere Operationen und eine Beschäftigungstherapie, berichtete Madeleine.
Die Ärztin sah sie an, schien auf etwas zu warten. Ihr Blick war beharrlich und freundlich, und trotz der unausgesprochenen Frage war Madeleines Kehle wie zugeschnürt, als drohte sie an ihren Tränen zu ersticken.
»Beschäftigungstherapie … Operationen«, sagte die Ärztin schließlich. »Die Verletzung muss ziemlich schwer gewesen sein.«
Madeleine hätte gerne gewusst, ob Chris ihr etwas erzählt hatte – dass ihr Arm
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