Wege im Sand
benutzte Stoffservietten, die etwas ganz Besonderes zu sein schienen, und Tilly saß auf dem Tisch und sah zu, wie Nell sie an den richtigen Platz legte. Draußen in der Küche hackte ihr Vater Knoblauch und Schalotten. Er rief ihnen zu, dass ihm die Zwiebeln die Tränen in die Augen trieben, aber Nell und Stevie sahen, dass er dabei lachte. Das machte Nell überglücklich.
»Die Nudeln kochen, und Schalotten und Knoblauch habe ich in Olivenöl angeschwitzt«, sagte ihr Vater. »Was brauchen wir sonst noch für die Sauce?«
»Frische Kräuter«, sagte Stevie und ergriff beide an den Händen. Sie gingen nach draußen, zu dem kleinen Kräuterbeet neben dem Haus, während Tilly die Chance nutzte und wie der Blitz zwischen den Bäumen verschwand. »Die Kräutergärten von Hubbard’s Point haben etwas Magisches«, sagte sie. »Beinahe jedes Haus hat einen.«
»Aber sie sind nicht so magisch wie deiner«, lachte Nells Vater. »Du weißt doch, was sich die Kinder über dich erzählen.«
»Dad!« Nell war entgeistert, dass er das Hexengerücht ausgerechnet jetzt aufs Tapet bringen musste.
»Ach Nell … es liegt ein Körnchen Wahrheit in dem, was die Kinder sagen«, erwiderte Stevie, die kniehoch inmitten der duftenden Kräutern stand. »Ich glaube an Magie.«
»Wirklich?« Nell trat neben sie. Der Duft von Rosmarin, Thymian, Minze und Kerbel, der sie umfing, machte sie beinahe benommen.
»Ja, ich glaube, wenn man sich etwas inständig wünscht, in der richtigen Weise, dann wird der Wunsch in Erfüllung gehen.«
»In der richtigen Weise?«
»Ja.« Stevie deutete auf die Kräuter, die gepflückt werden sollten.
»Aber wie?«
»Indem man sein Bestes tut, um den Wunsch zu verwirklichen. Und danach gibt man die Kontrolle ab und wartet.«
Nell griff blind nach den Kräutern; es war dunkel, und sie konnte nicht sehen, was sie erwischte. In dem Beet konnte es Mäuse, Spinnen oder Schlangen geben. Aber sie vertraute Stevie. Außerdem rochen die Kräuter gut, und die Nacht war wie verzaubert. Sie hielt Petersilie und Koriander in den Händen.
»Und an wen gibt man die Kontrolle ab?«, warf Jack ein.
Stevie schwieg. Nell auch; sie schloss die Augen. Sie erinnerte sich, wie es in Georgia gewesen war, wie traurig sie alles stimmte und wie sie sich von ganzem Herzen gewünscht hatte, dass ihr Vater und sie irgendwann wieder glücklich sein könnten. An jenem Wochenende hatte er ihr eröffnet, dass sie nach Boston ziehen würden, um ganz neu anzufangen. Dieser Schritt hatte irgendwie dazu geführt, dass sie im Sommer nach Hubbard’s Point gekommen waren, wo sie Peggy kennen gelernt hatte … und Stevie. Immer noch mit geschlossenen Augen, wünschte sie sich nun, dass diese Zeit niemals zu Ende gehen möge.
In dem Moment hörten sie, wie Klänge vom Strand herüberwehten. Nell fürchtete sich – sie waren so sonderbar und unheimlich, wie Stimmen, die vom Himmel kamen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Das Strandkino«, antworteten ihr Vater und Stevie wie aus einem Munde.
»Könnten wir nicht hingehen?« sagte sie atemlos, von einem zum anderen blickend.
»Das Essen ist gleich fertig«, gab ihr Vater zu bedenken.
»Wenn wir uns beeilen …«, meinte Stevie.
»Einverstanden«, erwiderte ihr Vater.
Sie gingen ins Haus. Stevie gab die Kräuter in den Kupfertopf. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich die Muscheln öffneten. Ihr Vater machte ihr vorsichtshalber einen Teller Nudeln mit Butter zurecht, und das war gut, denn Nell brachte keinen Bissen von den Muscheln herunter, die sie gerade ausgegraben hatte. Ihr Vater und Stevie verspeisten sie mit großem Appetit und meinten, es wären die Besten, die sie jemals gegessen hätten.
Nach dem Essen erledigten Stevie und ihr Vater schnell den Abwasch, während Nell durchs Obergeschoss hüpfte, beäugt von Tilly, die sie von einem Versteck auf der Kamineinfassung beobachtete. Nell fühlte sich wie zu Hause und wünschte sich, sie könnte immer wieder hierher zurückkehren. Plötzlich hielt sie inne.
Sie erinnerte sich, was Stevie im Kräutergarten gesagt hatte. Dass man sich etwas wünschen und sein Bestes tun müsste … und dann würde sich der Wunsch erfüllen.
Nell hatte sich gewünscht, dieser Tag möge niemals enden, und nun würden alle gemeinsam ins Strandkino gehen. Dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen war, verlieh ihr ein seltsames Gefühl der Macht. Den Glauben an ein Wunder hatte sie schon lange aufgegeben. Es war, als würde man mit dem Rechen den
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