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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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beinahe abgetrennt worden war. Sie wollte die Geschichte nicht wieder aufwärmen – sie hatte mit dem anderen Therapeuten darüber gesprochen und war vor Kummer nahe daran gewesen, den Verstand zu verlieren. Denn wie konnte sie es wagen, wegen ihres Arms zu jammern – wo Emma bei dem Unfall ums Leben gekommen war?
    Ihr Mann sei ihr eine wunderbare Stütze gewesen, erzählte sie der Ärztin. Ihr Bruder und sie hatten sich dagegen – entfremdet.
    Dann spulte sie den Rest der Geschichte herunter, so leidenschaftslos wie möglich, bemüht, sachlich zu bleiben und zu zeigen, dass sie alles im Griff hatte, kompetent und geistig völlig klar war. Wo sie geboren war, wer ihre Eltern waren, ihr Bruder Jack … eine harmonische, sich nahe stehende, gut angepasste Familie. Sie skizzierte in groben Zügen ihren Gesundheitszustand – im Allgemeinen gut. Nicht viel körperliche Bewegung – sie hatte aufgehört, Tennis zu spielen, was ihr früher viel Spaß gemacht hatte.
    »Hatten Sie ein enges Verhältnis zueinander, Ihr Bruder und Sie?«
    Madeleine nickte. »Er ist vier Jahre älter als ich. Er brachte mich immer zur Schule. Ich durfte mit in den Goodwin Park, wenn er etwas mit seinen Freunden unternahm. Damals waren die Tennisplätze noch unbeleuchtet, aber wir spielten, bis es dämmerte – manchmal sogar noch nach Einbruch der Dunkelheit! Wir spielten nach Gehör – lauschten dem Ball. Und er nahm mich mit in die Stadt – manchmal fuhren wir schwarz mit dem Bus – hinten, auf der Stoßstange!« Sie lächelte, um der Ärztin zu zeigen, dass sie keine Angst gehabt hatte. Die Geschichte weckte eine nachhaltige Erinnerung – sie spürte wieder den Arm ihres Bruders, der sie umfing, als er sagte: »Dir kann nichts passieren, Maddie. Ich pass auf dich auf.«
    Eine Antwort hatte sich erübrigt – es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie im Beisein von Jack Schaden nehmen konnte. Die Erinnerung an die Liebe und das Vertrauen zu ihrem Bruder überwältigte sie, als sie Dr. Mallory diese Episode erzählte, und sie lächelte.
    »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?«, sagte sie. »Das hat doch gar nichts mit dem Grund meines Besuches zu tun.«
    Die Ärztin lächelte.
    »Unsere Familie verbrachte die Sommerferien an einem Strand namens Hubbard’s Point. Wir hatten nicht viel Geld, aber unser Vater sparte, wollte uns all das bieten, was in seiner Macht stand. Damals waren wir schon Teenager, aber Jack war so nett, mich trotzdem überallhin mitzunehmen. Bis ich eigene Freunde fand – Emma und Stevie.« Sie hielt inne, sah die Ärztin an. »Doch vorher nahm er mich unter seine Fittiche. Wir kannten dort niemanden.«
    »Aber ihr hattet einander.«
    Sie nickte. »Er fuhr, sooft es ging, nach Hartford – er hatte dort eine Freundin. Aber wir spielten zusammen Tennis, oder er nahm mich zum Fischen mit. Oder wir schwammen um die Wette zum Floß. Eines Tages machten wir eine Radtour … erkundeten die Umgebung. Wir entdeckten einen alten Wasserturm, unweit der Eisenbahnschienen. Ich kletterte die Leiter hoch, um ihn zu beeindrucken …« Madeleine schloss die Augen, erinnerte sich. »Er befahl mir, auf der Stelle herunterzukommen, aber ich wollte ihm zeigen, dass ich es schaffen würde.«
    Die Ärztin hörte aufmerksam zu.
    »Es war eine morsche alte Leiter. Aus irgendeinem silbrigen Metall – brüchig und verrostet. Ich schaffte es bis zur obersten Sprosse – und machte den Fehler, nach unten zu schauen.«
    »Sie waren weit oben?«
    Madeleine nickte. »An die zehn Meter über dem Boden. Ich erstarrte zur Salzsäule.« Ihr Körper wirkte angespannt, und ihre Finger verkrampften sich, als hielte sie sich an einer Sprosse der Leiter fest. »Ich konnte mich nicht rühren – keinen einzigen Muskel mehr. Ich klammerte mich blindlings an die Leiter, war überzeugt, dass ich herunterfallen und den Sturz nicht überleben würde. Ich war wie gelähmt.«
    »Und Ihr Bruder?«
    Madeleine schluckte. Tränen traten in ihre Augen. Sie ließ die Erinnerungen wieder aufleben – die Hitze, die an dem Tag herrschte, wie die Leiter schwankte, als Jack sie erklomm, die Todesangst, die sie empfunden hatte.
    »›Halte durch, Maddie‹, rief er mir zu. ›Es wird alles gut – schau nur nicht nach unten. Ich halte dich.‹ Er war unter mir, und ich spürte, wie er meinen Knöchel packte. Ich bat ihn, mich loszulassen – ich wolle ihn nicht mit in die Tiefe reißen, wenn die Leiter umkippte.«
    »Und? Ließ er

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