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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Single Malt Whisky … nichts für Weicheier!«
    Jack zuckte die Achseln, versuchte, eine enttäuschte Miene aufzusetzen. In Wirklichkeit legte er Wert darauf, seine Freizeit so oft wie möglich mit Nell zu verbringen, ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Seit der Ankunft in Schottland war sie ziemlich labil. Sie litt erneut unter Albträumen – Dr. Galford hatte ihm den Namen eines Kollegen in Inverness genannt, und er wusste, dass er unbedingt dort anrufen musste. Inzwischen trauerte Nell nicht nur um Emma – sondern auch um Stevie, Peggy und Madeleine. Eine Krise, die sich durch seine Entscheidung noch zugespitzt hatte.
    »Das mit der Kinderbetreuung wird sich garantiert ändern, noch vor dem nächsten Monat«, sagte April leise, als die anderen abermals einen Blick auf die Pläne warfen. Jack wunderte sich über das Funkeln in ihren Augen.
    »Wieso?«
    »Weil wir noch ein neues Teammitglied bekommen.«
    Jack waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Ivan die Leitung dieses Projekts höchstpersönlich zu übernehmen gedachte. Die Brooks Oil Company war einer seiner größten Kunden, und er wollte sichergehen, dass die Brücke fristgerecht und im Rahmen des Budgets errichtet würde.
    »Ivan?«
    April machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte. »Ivan doch nicht! Dann hätten wir alle so viel zu tun, dass an einen Abstecher ins Golden Peat nicht zu denken wäre. Nein, es ist eine ›Gastarbeiterin‹, genau wie du früher bei IR  … ein Teil des Projekts wird deiner alten Firma übertragen, die als Subunternehmer tätig sein wird.«
    »Structural?«
    April nickte und lächelte verschmitzt, als hätte sie den neuesten Firmenklatsch gehört. »Genau. Francesca kommt an Bord.«
    Als sie an die Arbeit zurückkehrten, warf er einen raschen Blick zu Nell hinüber, die den Strand durchkämmte. Sie las Muscheln und Kieselsteine auf, verwahrte sie in der gewölbten Hand. Gelegentlich verstaute sie den Fund in ihrer Tasche und setzte sich hin, um Notizen zu machen, aufmerksam und konzentriert.
    Sie nahm Stevies Auftrag offenbar sehr ernst. Madeleine war ähnlich gewesen in dem Alter, als sie an anderen schottischen Küsten entlanggewandert war, auf der Suche nach Eindrücken, die sie ihren Freundinnen mitteilen konnte. Er hatte oft gesehen, wie sie an einem Schreibtisch im Hotel saß und mit Feuereifer Postkarten schrieb.
    Er hatte sie manchmal beneidet – ihm war bewusst geworden, dass er nie Freunde gehabt hatte, die es ihm wert gewesen wären, seine Ferienaktivitäten zu unterbrechen, um sich hinzusetzen und irgendetwas zu Papier zu bringen. Maddie schon … und Nell tat nun das Gleiche, in der gleichen Körperhaltung wie damals ihre Tante, geradezu unheimlich. Und noch seltsamer war, dass sie beide ein und derselben Frau schrieben: Stevie.
    Er betrachtete seine Nell, die sich über das Notizbuch beugte und eifrig schrieb. Berichtete sie von dem steinigen Strand, den dunkelgrauen Wolken, der eisigen Salzluft, dem harschen Wind, der vom Meer herüberwehte? Dabei befanden sie sich an der Westseite einer Landenge, die zwei Teile einer schmalen Insel bis zur Hälfte des Archipels miteinander verband. In östlicher Richtung konnte er die Nordsee ausmachen. Doch im Westen sah er den Atlantik – der geradewegs nach Nordamerika führte.
    Hubbard’s Point war irgendwo am anderen Ende, dachte Jack. Falls Stevie an ihrem Strand spazieren ging, hätten sie einander beinahe sehen können. Aber nur beinahe.
    Wenn es nicht die dreitausend Meilen Ozean zwischen ihnen gegeben hätte.
    Er blickte Nell abermals an, fragte sich, was sie wohl schrieb. Würde Stevie die Gedanken seiner Tochter der Dritten im Beachgirl-Bund anvertrauen?
    Würde sie Nells Karten an Madeleine weiterleiten?
    Was tust du eigentlich hier?, fragte er sich, nicht zum ersten, sondern mindestens zum hundertsten Mal seit seiner Ankunft in Schottland. Die Begegnung mit Stevie hatte sein ganzes Leben verändert: Er war aus seinen eingefahrenen Geleisen ausgebrochenen, aus dem selbst erschaffenen Teufelskreis aus Flucht, Hass und Verstecken – vor seiner Schwester, vor der Tragödie.
    Vor der Wahrheit.
    Der Wind blies Jack in die Augen, so dass sie brannten und nass wurden. Er drehte sich um, kehrte zu seinen Kollegen zurück, zu der vergleichsweise leichten Aufgabe, eine Brücke mit vier Fahrbahnen zu bauen, als Ersatz für den alten Fuhrweg, der bei Flut oft unter Wasser stand.

24. Kapitel
    N ell beendete ihre Hausaufgaben, dann lief sie

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