Wege im Sand
gewissermaßen, schrieb er. Wie geht es Aida, und wie weit ist die Gründung ihrer Stiftung gediehen? Was meine Arbeit angeht, so musste ich sofort loslegen – Brücken als Bindeglied zwischen den Raffinerien und verschiedenen Vorposten auf den Orkneys entwerfen, die vor allem von Leuten bewohnt werden, die mit der Ölförderung in der Nordsee befasst sind. Nell hat mir vor Augen geführt, was sie von meiner Tätigkeit hält, indem sie aus der Zeitung ein Foto von Enten ausgeschnitten hat, die durch die Ölverschmutzung verendet waren – ausgerechnet in der Stadt, der meine erste Brücke zugute kommen soll. Die armen Vögel waren mit einer schwarzen Ölschicht bedeckt, und Nell zeichnete eine Blase über ihren Köpfen, in der geschrieben stand: ›Stevie, dein nächstes Buch solltest du darüber schreiben, wie das Öl die Enten umbringt!‹ Neun Jahre alt, und schon eine Umweltaktivistin. Sie vermisst dich.
Stevies Blick hatte sich umgehend auf das Foto konzentriert – das dem Brief beigefügt war. Sie hatte viel zu viele Aufnahmen wie diese gesehen – Wasservögel, das Gefieder geteert vom ausgelaufenen Öl, unfähig zu fliegen oder zu entkommen, manchmal im Wasser gefangen, bis sie ertranken. Als Kind hatten solche Bilder sie traurig gestimmt, jetzt lösten sie Wut in ihr aus.
Früher hatte sie sich in Arbeit gestürzt, die ihr half, Krisen in ihrem Leben zu überwinden. Jede Scheidung war schmerzvoll gewesen, aber sie hatte sie überstanden, indem sie Bücher schrieb – und sich aufs Neue verliebte. Selbst in der Trennungsphase war sie von einer urwüchsigen, geballten Energie erfüllt – die sie an die Staffelei trieb. Früher hatte sie nie unter Depressionen gelitten – warum also jetzt?
Draußen vor dem Fenster schien das Licht von Hubbard’s Point zu explodieren, reflektiert vom Wasser und vom weißen Sand. Die Blumen im Garten hinter dem Haus nahmen das Licht auf, gaben es wieder ab. Das Licht von Hubbard’s Point war einmalig – besonders von Stevies Haus auf dem Hügel aus. Es war, als hätten ihre Eltern bei der Wahl des Anwesens gewusst, dass ihre Tochter einmal Malerin werden würde.
In den vielen Sommern, die sie hier verbracht hatte, war das ungebändigte Licht immer ein Ansporn gewesen, Krisen durchzustehen – doch heute kehrte sie sich von ihm ab, wandte dem Fenster den Rücken zu. Sie schaffte es nicht, gegen die alles verzehrende Dunkelheit in ihrem Inneren anzukämpfen – selbst der strahlende Sonnenschein vermochte sie nicht zu durchdringen.
Als das Telefon klingelte, hätte sie beinahe nicht abgehoben. Sie hatte keine Lust zu reden, wer es auch war. Tilly lag reglos da, träge und uninteressiert. Stevie ließ es klingeln – fünf Mal, sechs Mal – bevor sie den Hörer abnahm.
»Ja bitte?«
Sie hätte schwören können, den Atlantischen Ozean in der Leitung rauschen zu hören, eine Ankündigung, aus welcher Ferne der Anruf kam … dann erfolgte eine kurze Pause, und gleich darauf rief eine aufgeregte, überschwängliche Stimme: »Stevie! Ich bin’s!«
»Nell!« Stevie setzte sich mit einem Ruck im Bett auf.
»Hast du meine Postkarten bekommen?«
»Ja – ich habe mich unsäglich darüber gefreut.«
»Ich war auf Strandpatrouille … ich nutze jede Gelegenheit, mit meinem Dad einen Strand nach dem anderen zu besichtigen. Strände gibt es hier massenweise.«
»Kann ich mir vorstellen, Schottland hat schließlich eine lange Küstenlinie.«
»Warst du mit meinem Bericht zufrieden, über die merkwürdigen Muscheln und das Seegras?«
»Ja, ausgezeichnet recherchiert, Miss Kilvert.«
Nell kicherte, ein vertrauter Klang, der Stevie durch Mark und Bein ging, bis ins Herz hinein.
»Auf der Isle of Harris gibt es angeblich rosafarbenen Sand und Palmen – dort fahren wir als Nächstes hin. Nicht wegen der Arbeit, sondern zum Vergnügen, übers Wochenende.« Nells Stimme klang so aufgeregt, dass Stevies Herz sank. Reiß dich zusammen, schalt sie sich.
»Mein Vater schuftet sich zu Tode«, fuhr Nell fort. »Er sitzt nur noch an seinem Zeichentisch und arbeitet! Ich muss ihn sogar daran erinnern zu essen. Ein Albtraum.«
Stevie lächelte über den Ausdruck. »Und was ist mit dir?«, fragte sie dann. »Hast du dir schon deine neue Schule angeschaut? Deine Lehrerin kennen gelernt?«
»Ja – schon. Dad ist andauernd unterwegs, deshalb hat er eine Privatlehrerin eingestellt, die Hausaufgaben mit mir macht. Sie ist nett. Miss Robertson. Ich habe ihr dein Buch
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