Wege im Sand
Schreie der Seemöwen wurden lauter, um sie von ihrer erbeuteten Ente zu vertreiben. Entschlossen hob sie in dem grobkörnigen Sand oberhalb der Gezeitenlinie mit bloßen Händen eine Grube aus, so tief ihre Arme reichten. Dann holte sie den Vogel, fühlte, wie ihr Herz schwer wurde, als sie ihn in das Loch legte. Sie rieb ihre teerbedeckten Hände mit Sand ab, um sie zu säubern. Das Begräbnis des Vogels führte ihr wieder vor Augen, dass alles Gute und Schöne vergänglich war. Ihre Mutter. Die Lebensfreude ihres Vaters, ihr eigenes Herz.
Und sie konnte nichts dagegen tun.
Außer einer Flaschenpost, sich etwas inständig zu wünschen und Stevie um Hilfe zu bitten.
Nells Wunsch flog wie ein Pfeil davon.
Stevie wachte mit einem Ruck aus ihrem Traum auf. In diesem Traum war der Raum in gleißendes Licht getaucht, so dass sie kaum etwas erkennen konnte. Plötzlich sah sie einen schwarzen Vogel, der in einem Käfig saß und sang. Stevie wusste mit einer Klarheit, die rätselhafte Vorgänge in Träumen oft annehmen, dass sie ihn freilassen musste. Als sie die Käfigtür öffnete, flog er hinaus. Er landete auf dem Fensterbrett, redete wie ein Papagei. Er sagte: »Wenn du mich gehen lässt, siehst du mich unter Umständen niemals wieder. Doch das hängt von dir ab … weil auch du Flügel hast. Du kannst mich suchen und um mich kämpfen.« Und dann war er davongeflogen.
Stevie hatte die Augen aufgeschlagen. Sie konnte den Traum nicht genau deuten; auf solche Dinge verstand sie sich nicht besonders gut. Aber er hatte ihr eine Kraft gegeben, an der sie festhalten wollte. Der schwarze Vogel, der Käfig, der Abschied … Der Traum war weder bedrückend noch hoffnungslos, sondern spornte sie vielmehr an, aufzustehen und schwimmen zu gehen.
Die Sonne stand bereits über den Wipfeln der Bäume, doch der Morgen war kühl, wie oft im September. Sie tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser, schwamm zum Floß hinaus. Dort ruhte sie sich aus, legte ihre Hand auf die Planken – wo sie mit Jack gelegen hatte. Die Erinnerung kehrte zurück. Sie schloss die Augen, meinte seine Arme zu spüren, die sie umfingen. Als junge Frau war das ihr größter Wunsch gewesen: einen Menschen zu haben, der sie hielt und nie mehr losließ, der zu ihr gehörte wie ihr eigener Atem.
Natürlich war eine solche Liebe unrealistisch, konnte niemals von Dauer sein. Das hatte sie sich selbst drei Mal bewiesen. Doch die Sehnsucht blieb, als hätte das Kind in Stevie, noch nicht im Besitz der Sprache, ihr Herz in Besitz genommen und eine Nähe verlangt, die sie nur von ihren Eltern kannte.
Doch inzwischen war sie erwachsen. Sie hatte sich wieder verliebt und sah keinen Sinn darin, sich vorzumachen, dass es nichts bedeutete. Das tat es sehr wohl. Sie war verzweifelt gewesen, weil die beiden auf und davon geflogen waren und sie nichts weiter tun konnte, als sie ziehen zu lassen. Der Traum begleitete sie noch immer, wühlte sie auf.
Als sie zum Strand zurückkehrte, den Hügel erklomm und sich in der Außendusche das Salz von der Haut spülte, fühlte sie sich wie neugeboren. Der Duft der Spätsommerrosen erfüllte die Luft. Sie trocknete sich ab, lief barfuß ins Haus. Sie füllte Tillys Napf und nahm sich nicht einmal die Zeit, Kaffee zu kochen, sondern eilte in ihr Atelier hinauf.
Als sie den Raum betrat, war ihr, als kehrte sie in ihren Traum zurück: Der Raum war von gleißendem Sonnenlicht erfüllt. Das Licht von Hubbard’s Point – ungetrübt, leuchtend, strahlend, glänzend, flimmernd, funkelnd, flammend, glühend – umgab sie mit blendender Helligkeit, als sie sich ihrer Staffelei näherte.
Sie hatte Nells Postkarten in ihrem Nachtschränkchen verwahrt. Nun holte sie jede einzelne heraus, heftete sie mit Reißzwecken an die Wand neben der Staffelei. Karten von Inverness Castle und Loch Ness, ein Papageientaucher auf den Orkney Inseln, flache Hügel rings um einen Meeresarm, ein Robbenbaby auf einem Felsen in Ladapool, eine Gänseschar, deren Umrisse sich vor einem orangefarbenen Sonnenuntergang über einer Bucht in den Western Highlands abzeichnete – und das Zeitungsfoto aus Jacks Brief, mit dem im Öl verendeten Wasservogel.
Stevie stand an ihrer Staffelei, kleidete sich an. Sie zog Jeans und das Trinity-College-Sweatshirt an, das Jack im Strandkino getragen hatte. Tilly lag auf den zerknüllten weißen Bettlaken, aalte sich in der Sonne, ließ sie nicht aus den Augen. Während sie die Bildergalerie der Postkarten betrachtete,
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