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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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und malte sich aus, sie könnte sich mit ihnen in die Lüfte erheben, weit fortfliegen – an einen Ort der Geborgenheit, der Liebe … nach Hubbard’s Point. Wenn sie Schottland verließ, würde ihr Vater keine andere Wahl haben, als ihr zu folgen … würde er verstehen, wie groß ihr Bedürfnis war, nach Hause zurückzukehren, nach Amerika, in ihr richtiges Leben.
    »Mir geht es genau wie dir«, sagte sie schluchzend, an den toten Vogel gewandt. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Teerklumpen verschluckt, an dem sie zu ersticken drohte, als wären ihre Schwingen gebrochen, verklebt von einer tödlichen Substanz. Wie damals in Georgia, gleich nach dem Tod ihrer Mutter, als ihr das Leben völlig unwirklich vorgekommen war, als sie das Gefühl hatte, nicht mehr zu den Lebenden zu gehören.
    Dieses Gefühl war geblieben, bis sie nach Hubbard’s Point kam, bis sie Stevie kennen lernte. Seltsamerweise hatte ihr Vater das Gleiche empfunden, dessen war sie sicher … Ihr Vater durfte nichts davon erfahren, aber seit dem Abschied von Stevie und Hubbard’s Point hatten sich ihre Albträume verändert.
    Dieses Mal war es nicht ihre Mutter, die tot war: Es war ihr Vater. Er hatte sich von allem gelöst, was er liebte – von seiner Heimat, seiner Schwester, seinen Erinnerungen. Sogar von Stevie, in Nells Träumen. Als er sie verließ, hatte er etwas aufgegeben, das ihn wieder lebendig gemacht hatte …
    Sie sah den Strand entlang – ihr Vater stand immer noch mit seinen Kollegen zusammen, behielt sie dabei jedoch im Auge.
    Er konnte sich gewiss nicht vorstellen, wie grauenhaft sie sich beim Anblick des toten, vom Öl geschwärzten Vogels fühlte. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von verschiedenen Gegenständen gefesselt, die sich in einem Büschel Seetang verfangen hatten. Es war ein zerfetztes Stück Fischernetz, ebenfalls mit einem öligen Schmierfilm überzogen. Ein Knäuel Riementang, eine kleine Muschelkolonie, von irgendeinem Felsen gerissen, nur noch durch ihre silbernen Fäden zusammengehalten. Und eine Flasche …
    Nell hob sie auf. Es war eine durchsichtige Plastikflasche, die früher Sprudel enthalten hatte. Das Etikett war fast abgerubbelt, aber sie kannte die Marke. Eine amerikanische … vielleicht hatte die Flasche den Ozean durchquert, getrieben von den Strömungen …
    Mit einem Mal kam Nell eine Idee. Sie öffnete den Schraubverschluss, wischte sich die Hände an den Jeans ab, holte ihr Notizbuch hervor und schraubte die Kappe vom Füllfederhalter ihres Vaters. Die Möwen kreisten über ihr. Sie ignorierend, machte sich Nell ans Werk.
    »Stevie, wir brauchen dich«, schrieb sie. »Mein Dad und ich. Wir brauchen dich …«
    Sie riss das Blatt heraus, rollte es zusammen und schob es vorsichtig in den Flaschenhals. Sie glaubte nicht wirklich, dass ihre Flaschenpost in Hubbard’s Point ankommen würde – oder es ihr auch nur gelang, die Bucht zu verlassen. Es hätte schon einiger Wunder bedurft, um den weiten Weg von Schottland zu Stevie zurückzulegen.
    Aber sie dachte an den Abschied von Peggy, als sie sich mit aller ihnen zu Gebote stehenden Macht etwas gewünscht hatten … Eine Flaschenpost war im Grunde nichts weiter als ein Wunsch … ein Wunsch, der aus der Luft gegriffen war oder im Herzen eines Mädchens wurzelte, aufgeschrieben und dem Meer überantwortet. Es ist nur ein Wunsch, sagte sich Nell. Nur ein Wunsch.
    Nur ein Wunsch … doch wenn er in Erfüllung ginge, würde sie mit ihrem Vater nach Hubbard’s Point zurückkehren; ihr Vater würde Tante Aidas Schloss restaurieren; Stevie würde wieder Einzug in ihr Leben halten, und Tante Madeleine, dafür würde Stevie schon sorgen …
    »Es ist nur ein Wunsch«, flüsterte Nell laut.
    Doch ihr Herz klopfte wie verrückt, was ihr verriet, dass sich der Wunsch bereits in eine Hoffnung zu verwandeln begann und der Verwirklichung somit einen Schritt näher rückte. Stevie, als Nicht-Hexe, würde das verstehen, genau wie Tilly. Nell holte tief Luft und warf die Plastikflasche in hohem Bogen ins Meer. Die Sonne blendete sie, so dass sie nicht gleich erkennen konnte, wo sie landete.
    Dort war sie – ihre Augen abschirmend, entdeckte sie die Flasche, die weit draußen, wo die Vögel geschwommen waren, auf und ab hüpfte. Nahm sie Kurs auf Amerika oder zurück zum Strand? Nell verfolgte ihren Weg lange Zeit, mit klopfendem Herzen. Sie schien aufs offene Meer hinauszutreiben … sie sah, wie sie kleiner und kleiner wurde.
    Die

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