Wege im Sand
weniger.«
»Aber mein Bruder …«
»Sie können seine Gefühle nicht verändern, wohl aber Ihre eigene Reaktion auf seine Worte und sein Verhalten. Das liegt allein in Ihrer Macht, Madeleine. Lassen Sie sich nur von Ihren eigenen Gefühlen leiten, nicht von seinen.«
»Aber stimmt es nicht auch – dass es nur einer einzigen Person bedarf, um eine Familie auseinander zu bringen?«
Die Ärztin neigte ihren Kopf zur Seite und schien zu lächeln. »Schon, aber es bedarf auch nur einer einzigen Person, um die Hand auszustrecken und der Entfremdung ein Ende zu setzen. Und den ersten Schritt auf diesem Weg haben Sie bereits getan.«
Diese Aussage war so einleuchtend, schlicht und unverfälscht, dass Madeleine nicht umhinkonnte, das Lächeln zum ersten Mal zu erwidern.
Stevies neues Buch machte rasante Fortschritte. Die Geschichte von den Stockenten, die in einer unberührten, von Ölverschmutzung bedrohten Umwelt lebten, ging ihr zügig von der Hand – Engagement und Gefühl, zwei unerlässliche Bestandteile, waren vorhanden. Sie hatte einige Fehlstarts hinter sich – sollte es um eine spektakuläre Katastrophe gehen wie bei der Exxon Valdez oder von der allmählichen Zerstörung der Natur durch eine Reihe kleinerer, weniger schlagzeilenträchtiger Umweltsünden handeln? Im Gespräch mit ihrer Lektorin entschied sie sich für Letzteres. Ihre Leser liebten die Natur und hatten trotz ihrer jungen Jahre immer mit großem Interesse ihren Umgang mit schwierigen Gegebenheiten wie dem Balanceakt zwischen Menschen und störanfälligen Ökosystemen verfolgt.
Und so malte sie eine Reihe von Seiten mit Buchten und Gezeitentümpeln, Stockenten, einem Mädchen, das den Strand absuchte, und einer Ölraffinerie im Hintergrund. Nell und die Enten fand sie auf Anhieb gelungen, doch die Kulisse ließ zu wünschen übrig. Die Landschaft sah aus wie Hubbard’s Point. Und in den Gezeitentümpeln tummelten sich Krebse, Aale, Seesterne und Miesmuscheln, wie in Hubbard’s Point.
Daher schrieb sie Nell Mitte September einen Brief, in dem es hieß: »Jetzt brauche ich deinen Beachgirl-Bericht aber sehr dringend! Ich habe nämlich deinen Rat beherzigt und mit einem neuen Buch begonnen, Der Tag, an dem das Meer schwarz wurde; der Zeitungsausschnitt, den du deinem Vater gegeben hast, hat mich dazu inspiriert. Deine Recherche war mir eine große Hilfe, und ich brauche schnellstens weitere Informationen, so genau wie möglich … Was für Arten von Muscheln, Küstenvögeln, Seetang usw. gibt es dort?«
Eines Nachmittags, ungefähr eine Woche nachdem sie den Brief abgeschickt hatte, fuhr sie zu Tante Aida, um zu sehen, wie es dort voranging. Ihre Tante malte wie besessen an ihrem letzten Bild der Beach Serie, da die Ausstellung bereits im Oktober stattfinden sollte. Eine Aida mit Dollarzeichen in den Augen war ein seltener Anblick. Ein Subunternehmen hatte die Instandsetzungskosten für das Schloss mit rund hunderttausend Dollar beziffert, und sie hatte sich ausgerechnet, dass sie ungefähr die Hälfte der Summe selbst aufbringen konnte, wenn sie jedes Bild verkaufte.
»Ich hätte nie gedacht, dass du mal des Geldes wegen malen würdest.« Stevie lächelte, als sie ihrer Tante bei der Arbeit zusah. Draußen auf dem Schlossgelände standen dicht an dicht Pick-ups, Lieferwagen von Elektrikern und Glasern und ein riesiger Baggerlader. Das Stakkato von Elektrowerkzeugen erfüllte die Luft. Aida lächelte grimmig.
»Dann lass dich eines Besseren belehren! Wenn es gilt, Vans Traum zu bewahren, ist mir beinahe jedes Mittel recht.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich muss dieses Anwesen als Naturschutzgebiet erhalten, in seinem Namen. Damit auch die junge Generation die Möglichkeit hat, die Schönheit der Küstenregion von Connecticut kennen zu lernen, die er so liebte. Ich fürchte nur, dass mir dafür das nötige Kleingeld fehlt.«
»Was meint dein Anwalt?«
»Die Stiftung steht – wir können anfangen, Spenden zu sammeln. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie – ich kann nur eines, malen. Er meint, wir brauchen jemanden vom Fach, der etwas von gemeinnützigen Organisationen versteht und Kontakte zu Leuten mit Geld knüpft, die bereit sind, für einen guten Zweck etwas springen zu lassen.«
»Genau das, was Künstler hassen.«
Aida nickte, konzentrierte sich auf ihre Leinwand – 1,35 Meter mal 1,35 Meter groß, die gleichen Ausmaße wie alle ihre Bilder –, bestehend aus breiten Farbbändern, die Meer, Sand und Himmel
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