Wege im Sand
andeuteten. In dieser Hinsicht war alles wie gehabt. Doch die Technik ihrer Tante hatte sich geändert: Sie trug eine dünne, durchscheinende Farbschicht über der anderen auf, so dass sich die Farben auf der Leinwand statt auf der Palette mischten.
»Was ist denn das?« Stevie beobachtete, wie sie Gelb über Blau auftrug – Sonnenlicht auf dem Wasser –, wodurch ein geheimnisvolles Grün entstand.
»Die Farben werden in den Augen des Betrachters statt auf der Leinwand gemischt.«
»Hast du früher auch schon mit dieser Technik gearbeitet?«
»Noch nie.« Sie kniff die Augen zusammen. »Das ist das erste Mal. Der Effekt hat mich umgehauen. Eine Innovation, die selbst mir die Sprache verschlägt …«
»Aber warum? Wieso – ausgerechnet jetzt? Wo du …«
»Deine Bilder verramschst? Für schnöden Mammon malst?« Aida lachte. »Mein liebes Kind, gerade du solltest wissen, dass es so etwas nicht gibt! Motivation ist ein Geschenk des Himmels, in welcher Form auch immer. Wenn sie dein Talent fördert, umso besser. In meinem Fall ist Liebe die Kraft, die mich treibt – die Liebe zu Van. Und bei dir die Liebe zu …«
Stevie betrachtete stumm die schlichte Komposition ihrer Tante, die zarten schimmernden Farbbänder, während die Motorsägen kreischten.
»Du hast Nell einen Brief geschickt, wie ich hörte.«
»Was für einen meinst du?«
»Den mit der Bitte um Informationen über die Vogelarten an der schottischen Küste. Für dein neues Buch. Jack sagte, sie sei deswegen ganz aus dem Häuschen.«
Stevie hörte mit klopfendem Herzen zu, während sie darüber nachdachte, dass Jack und Aida miteinander telefoniert hatten.
»Dir ist schon klar, warum du ausgerechnet Schottland als Schauplatz gewählt hast, oder?«
Stevie konnte nicht antworten.
»Weil du wusstest, dass du nach Schottland musst. Um vor Ort zu recherchieren. Du warst ja auch am Südpol, auf dem Packeis, um Material für das Buch über die Kaiserpinguine zu sammeln.«
»Ich war mit Linus in der Antarktis. Meine Recherchen vor Ort haben sich immer als Materialsammlung für das Reisetagebuch der gescheiterten Ehen entpuppt.«
»Liebes Kind, warum gehst du so hart mit dir ins Gericht?«
»Die Liebe ist ein hartes Brot.« Der Gedanke, nach Schottland zu fliegen und Nell Hoffnung zu machen, die dann enttäuscht wurde, weil es mit Jack und ihr nicht klappte, war zu niederschmetternd, um ihn ernsthaft in Betracht zu ziehen.
»Nein«, entgegnete Aida ruhig. »Sie ist die einfachste Sache der Welt. Kompliziert wird sie nur durch die Zweifel und Ängste und Erwartungen, mit denen wir sie Schicht für Schicht überlagern. Schau dir Henry und Doreen an.«
»Ich weiß.« Stevie hatte die Hochzeitseinladung erhalten – die Trauung war am kommenden Samstag in Newport, wo sie sich kennen gelernt hatten, wo sich Henrys Offiziersanwärter-Schule befand und wo sie leben würden.
»Henry hat die Situation mit so vielen Ängsten befrachtet, dass er Doreen um ein Haar verloren hätte. Weißt du, in den Wochen, die er in meinem Gästehaus verbrachte, hatten wir einige lange gute Gespräche. Es brach mir fast das Herz, meinen Stiefsohn, ein gestandenes Mannsbild von mehr als fünfzig Jahren und hochdekorierten Fregattenkapitän, mit Tränen in den Augen an meinem Tisch sitzen zu sehen … als er erkannte, dass er Gefahr lief, Doreen zu verlieren, nur weil er so ein Angsthase war.«
»Ich würde nie auf die Idee kommen, Henry als Feigling zu bezeichnen«, entgegnete Stevie, sich den Commander in Uniform vorstellend.
»Er war einer, nur hat es niemand bemerkt.«
Stevie dachte an ihre eigenen Ängste – wenn einer feige war, dann sie. Sie zog es vor, sie als Selbstschutzmechanismen zu betrachten, aber das war in Wirklichkeit ein und dasselbe. Oder sie redete sich ein, dass es ihr nur um das Wohl von Jack und Nell ging. Sie hatte so viele Fehler begangen, dass sie ihnen ihr chaotisches Leben nicht zumuten wollte.
»Du meinst also, Liebe sei kein hartes Brot«, griff Stevie die Worte ihrer Tante auf.
»Nein. Sie wächst und gedeiht auch ohne dein Zutun, wenn du es zulässt. Den Beweis werden wir am Samstag sehen, wenn Henry und Doreen in der St. Mary’s Church den Bund fürs Leben schließen. Liebe kann Berge versetzen, wenn du an sie glaubst.«
»Wie dein Vorhaben mit Onkel Vans Schloss«, sagte Stevie, während der Lärm des Baggerlasters, der Erdmassen transportierte, und die Zurufe der Männer, die hoch oben das Dach des Turmes neu deckten,
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