Wege im Sand
spürte sie, wie die Idee zu einem neuen Buch Gestalt anzunehmen begann – und nicht nur das.
Sie merkte mit einem Mal, dass ihr Haus lichtdurchflutet war. Sie sah sich selbst – ihr ganzes Leben lang gefangen in einem Teufelskreis, oft leiderfüllt, fortwährend auf der Suche nach Liebe, die ihr das Gefühl vermitteln sollte, nichts mehr zu entbehren … Erst jetzt, heute Morgen, war ihr endlich klar geworden, dass diese Suche zu dem Licht in ihrem Inneren führte. Wo sie nichts entbehrte; sie hatte ihr Haus, ihre Malerei, ihre Geschichten und ihre Träume. Sie hatte Jack und Nell gehen lassen, weil sie gehen mussten. Doch auch sie hatte Flügel.
Sie dachte an ihren Traum und wusste, dass er es wert war, dafür zu kämpfen, wert, ihm nachzujagen. Während sie die Farben mischte, warf sie einen Blick auf das Foto mit den verendeten, ölverschmierten Enten, das Jack ihr geschickt hatte. Darüber Nells Worte, schwach sichtbar. Stevie hatte bereits einen Titel für das nächste Buch im Sinn: Der Tag, an dem das Meer schwarz wurde.
Sie dachte an den schwarzen Vogel in ihrem Traum, an die mit Rohöl verschmierten bedauernswerten Kreaturen auf den Zeitungsfotos. Sie dachte an alle Seevögel, die sie zeichnen konnte: Dreizehenmöwen, Schwarze Seetaucher, Papageientaucher, Tordalken, Sturmschwalben, Nordische Sturmtaucher, Stockenten, Krickenten, Pfeifenten, Schellenten, Austernfischer, Brachvögel, Wasserläufer, Schmarotzerraubmöwen, Tölpel, Mittelsägen, Eiderenten und Eistaucher.
Doch da sich Nell ein Buch über Enten wünschte, entschied sich Stevie für Stockenten. In einem Vogelkundebuch las sie etwas über ihren Lebensraum nach – sie waren tatsächlich im schottischen Hochland beheimatet. Und dann skizzierte sie, mit raschen Pinselstrichen, ein Wasservogelpärchen. Die Geschichte nahm in ihrem Kopf bereits Gestalt an. Sie sollte in Schottland spielen – auf einer kleinen Insel in der Mitte der Orkneys. Sie stellte sich das klare Licht im Norden vor, das Polarlicht, das dunkle Meer, in dem sich beides spiegelte. Sie sah die Stockenten vor sich – die grünen schillernden Nackenfedern. Und ein Mädchen, das am Strand entlangging …
Das war alles, was Stevie einfiel, für den Augenblick. Die Geschichte würde sich mit jedem Pinselstrich und Nells Postkarten weiterentwickeln. Sie tauchte den Pinsel ins Wasser, machte sich ans Werk.
25. Kapitel
M adeleines Arbeit mit Dr. Mallory war mühselig, erhellend, erschöpfend und aufschlussreich. Sie war vierundvierzig Jahre alt und hatte das Gefühl, sich zum ersten Mal richtig kennen zu lernen. Sie war im emotionalen Labyrinth des Unfalls stecken geblieben, durchlebte das Grauen wieder und wieder in Albträumen und Rückblenden. Die Begegnung mit Jack hatte etwas in ihrem Inneren aufgebrochen, ihr Stärke und Hoffnung verliehen und den Wunsch geweckt, schnell wieder gesund zu werden.
Behutsam machte Dr. Mallory sie mit dem Gedanken vertraut, dass sie an PTSD litt – einer posttraumatischen Stressreaktion. Die Symptome waren paradox: Sie wurde von Erinnerungen und Empfindungen beherrscht, die den Unfall betrafen, doch gleichzeitig versuchte sie, alles zu verdrängen, was damit zusammenhing. Beide Zustände waren für sie gleichermaßen real.
»Ich kann meinen Körper nicht mehr spüren«, sagte Madeleine eines Tages leise und gestand, dass sie seit Monaten nicht mehr mit Chris geschlafen hatte.
»Erzählen Sie«, forderte die Ärztin sie auf.
»Ich bin einfach nicht mehr da. Es gibt Tage, an denen ich nur eines spüre, meine Narbe – und den pulsierenden Schmerz. Als wäre das der einzige Teil meines Körpers, der noch existiert. Ich liebe meinen Mann, aber ich ertrage es nicht, wenn er mich berührt.« Sie wünschte, sie könnte beschreiben, wie betäubt und verstört sie sich in solchen Situationen fühlte.
Sie hatte so viele Fehltage im Brown Development Office, dass ihr Chef vorgeschlagen hatte, sie solle unbezahlten Urlaub nehmen – wenn sie ihre Stelle nicht verlieren wollte. Also nahm sie Urlaub.
Nach mehreren Gesprächen, in denen es Madeleine nicht gelang, auf ihre Erinnerungen zuzugreifen – und da es ohnehin zu schmerzvoll war, den Unfallhergang zu schildern –, hatte Dr. Mallory eine EMDR -Kurzzeittherapie vorgeschlagen. Diese Behandlungsmethode schien so einfach zu sein, dass Madeleine nicht an ihren Erfolg glauben mochte.
Aber sie wusste, wie sehr sich ihr Leben seit dem Unfall verändert hatte. Sie hatte sich in ihr
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