Wege im Sand
Kontakt mit einer von uns beiden; das braucht ein Kind, das keine Mutter mehr hat.«
»Sie braucht dich.«
Madeleine nickte. »Ich glaube auch.«
»Jack hat mir in groben Zügen erzählt, was zwischen euch passiert ist. Nach Emmas Tod.«
Madeleine nickte. Sie holte tief Luft, spürte die kühle Seeluft auf ihrer Haut. Sie saß kerzengerade da, blickte ihrer Freundin in die Augen.
»Er denkt, die Wahrheit über Emma würde alles zerstören. Deshalb meint er, er müsste das Geheimnis hüten, wie eine Büchse der Pandora unserer Familie.«
Stevie strich sich die Haare aus den Augen, trank einen Schluck Kaffee. Madeleine wusste, dass die Frage kommen würde – und fühlte sich beinahe gerüstet.
»Was für eine Wahrheit?«, fragte Stevie schließlich.
»Sie hatte vor, einen Schlussstrich zu ziehen.«
Stevie runzelte die Stirn, strich sich abermals das Haar aus dem Gesicht. »Ich weiß, aber trotzdem verstehe ich es nicht ganz – sein Bedürfnis, davonzulaufen und Nell zu schützen. Es ist traurig, aber Paare trennen sich nun mal – Ehen scheitern.«
»Es ging nicht nur um die Ehe. Emma wollte sich von allem trennen. Von ihrem alten Leben. Und von Nell.«
»Das hätte sie doch nie über Herz gebracht …«
»Das sagte ich auch, davon war ich fest überzeugt.« Madeleine dachte an die Fahrt zurück, an all die Stunden am Strand, als sie zugehört hatte, wie Emma mit der Wahrheit herausrückte, ihre Gefühle offenbarte.
»Sie wird eine vorübergehende Trennung gemeint haben – eine Woche, oder vielleicht einen Monat –, du sagtest, sie habe Nell vor eurem gemeinsamen Urlaub auch nicht eine Nacht alleine gelassen.«
»Von vorübergehend kann keine Rede sein.« Madeleines Kopf begann zu hämmern.
»Jack sagte, sie hätte ein Doppelleben geführt.«
Madeleine nickte. »So ist es.«
»Hatte sie eine Affäre?«
»Mehr oder weniger.«
»Wie kann man ›mehr oder weniger‹ eine Affäre haben?«
»Sie hatten nicht miteinander geschlafen.«
»Aha. Wer war der Mann?«
»Ihr Priester.«
Stevie starrte sie sprachlos an.
»Ich weiß es«, meinte Madeleine, als sie den Zweifel in Stevies Augen sah. »Father Richard Kearsage. Er war neu in der Gemeinde – versuchte, seine Schäfchen aktiv in seine Arbeit einzubinden. Er habe ihr die Augen geöffnet, sagte sie, ihr Interesse für die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen geweckt. Er rief ein Alphabetisierungsprogramm im nahe gelegenen Gefängnis ins Leben, und Emma behauptete, die Zusammenarbeit mit ihm habe ihr Leben – und ihr Weltbild – völlig umgekrempelt.«
»Und was hatte das mit ihrer Absicht zu tun, Jack zu verlassen?«
»Die beiden verliebten sich ineinander.«
Stevie blickte aufs Meer hinaus. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Wellen hatten silberne Kämme, als sie heranrollten.
»Wie konnte er eine Familie zerstören, als Priester?«
»Emma meinte, Priester wären auch nur Menschen. Mit den gleichen Sehnsüchten wie alle anderen Männer. Es machte ihr offenbar mehr zu schaffen, dass er ihretwegen die Kirche verlassen wollte, als ihre Familie seinetwegen zu verlassen.«
»Wie konnte sie nur?«
»Sie war bis über beide Ohren verknallt, Stevie.«
»Das geht einfach nicht in meinen Kopf. Dass sich eine verheiratete Frau in einen anderen verliebt, finde ich nicht gerade berauschend, kann aber passieren. Dein Bruder ist ein wunderbarer Mensch, aber nehmen wir an, sie hat es bei ihm nicht mehr ausgehalten, aus welchem Grund auch immer. Doch was war mit Nell?«
Diese Fragen und Stevies Vehemenz weckten bei Madeleine Erinnerungen an ihre eigene Reaktion und die Rückfahrt nach Atlanta. Ihre Hände begannen zu zittern, und sie verschränkte sie im Schoß.
»Das wollte ich auch von ihr wissen. Ich war fassungslos – konnte es einfach nicht glauben, dass sie auch nur in Betracht zog, Nell im Stich zu lassen. Offensichtlich war sie ihm irgendwie hörig. Sie meinte, niemand habe ihr jemals so viel Verständnis entgegengebracht wie er. Er liebe und akzeptiere sie mit allen Fehlern, ihren Verletzungen und den Dingen, die sie an sich selbst hasse.«
»Moment mal – er ist Seelsorger. Das ist schließlich seine Aufgabe! Woher wusste er überhaupt von ihren ›Verletzungen‹? Vermutlich wandte sie sich in ihrer Not an ihn. Das kenne ich aus eigener Erfahrung. Nach meiner Fehlgeburt ging ich oft in die Kirche, um mich auszuweinen. Dort gab es einen Priester, der sehr nett war. Er saß eine ganze Stunde bei mir, hörte
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