Wege im Sand
sollte. Er hatte sie um eine Auszeit gebeten, um ›in sich zu gehen‹, zu beten, Erleuchtung zu finden. Er fuhr in die Berge, in denen er aufgewachsen war, ganz allein, für … ich weiß nicht wie lange, aus ihrem Mund klang es wie vierzig Tage in der Wüste. Danach kehrte er zurück und erklärte, er habe beschlossen, seinen Priesterberuf an den Nagel zu hängen, um mit ihr zusammenzuleben.«
»Blieb nur noch eines, sie musste ihren Ehemann abservieren.«
»Richtig.«
»Und Nell.«
»Der Gedanke brachte mich schier um den Verstand, Stevie. Wir fuhren nach Hause.«
»Am Tag des Unfalls?«
Madeleine nickte. Sie hörte die Wellen gegen das Ufer branden. Es fiel ihr schwer, die schrecklichen Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Aber sie musste sie loswerden, es war ihr wichtig, dass ihre Freundin sie verstand. Stevie hatte Emma gekannt und geliebt; und allem Anschein nach bedeuteten ihr Nell und Jack sehr viel.
»Ich werde dir erzählen, wie es passiert ist.« Madeleines Stimme brach. »Weil ich dich liebe und dir vertraue. Und ich brauche eine Verbündete.«
»Eine Verbündete?«
»Die mir dabei hilft herauszufinden, wie ich die Beziehung zu meinem Bruder kitten kann. Und ihm zu helfen, seine eigenen Wunden zu heilen. Er ist zutiefst verletzt.«
»Ich weiß.« Stevie ergriff ihre Hand. Ihre Augen waren mitfühlend und ihr Blick fest. Madeleine ließ die Hand liegen, spürte den Druck von Stevies Fingern.
»Wir fuhren nach Atlanta zurück. Emma wollte mir unbedingt zeigen, wo Richard aufgewachsen war. Eine Kleinstadt auf dem Lande, in den Hügeln von Georgia. Sehr arm … Emma sagte, er habe sie dorthin mitgenommen, damit sie sich selbst ein Bild von den Wurzeln der Armut, den sozialen Missständen, machen könnte. Einige seiner ehemaligen Nachbarn waren als Schwerverbrecher im Gefängnis gelandet. Sein eigener Vater hatte hinter Gittern gesessen, nur weil er einen Scheck gefälscht hatte, und war in der Haft ums Leben gekommen – erstochen von einem Mithäftling. Richard sagte, seine Familie habe viel erlitten und deshalb betrachte er es als seine Aufgabe zu helfen.«
»Deshalb wurde er Priester?«
Madeleine nickte. »Die Familie muss sehr stolz auf ihn gewesen sein. Er erhielt ein Stipendium von der Loyola University. Danach wurde er ordiniert. Anschließend absolvierte er ein Graduiertenstudium in Georgetown, nahm an einem Programm für Frieden und Gerechtigkeit teil. Emma meinte, er habe sich mit Leib und Seele dem Kampf für soziale Gerechtigkeit verschrieben.«
Stevie starrte die Flamme der Kerze an und schien zu zittern.
»Was ist?«
»Oh, ich erinnere mich an die Worte meines Vaters. Als ich klein war … und mich im Schilf versteckte, um den Flussuferläufern beim Nestbau zuzuschauen. Oder wenn ich an eiskalten Abenden draußen ausharrte, um einen Blick auf die Eule zu erhaschen, die aus dem Wald hinausflog … Er meinte, mein leidenschaftliches Interesse für die Vogelwelt lasse darauf schließen, dass ich alles im Leben mit Leidenschaft angehen würde. Ich besäße ein inneres Feuer …«
»Was ich nur bestätigen kann.«
»Er sagte, ich müsse lernen, damit umzugehen. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Er erklärte mir, das Studium der irischen Literatur habe ihn gelehrt, dass Leidenschaft nicht nur eine belebende, sondern auch eine zerstörerische Wirkung haben kann. Er beneidete mich um diese Gabe, aber ihretwegen machte er sich auch Sorgen um mich …« Sie verstummte, immer noch in die Flamme starrend, als sähe sie darin ihre eigenen Dämonen. »Vielleicht wurde Richard von dem gleichen inneren Feuer verzehrt.«
»Mag sein. Aber ich habe Emma auf dem Gewissen.«
»Sag das nicht.« Stevie hob den Blick.
»Es stimmt aber. Ich war es, die gegen einen Baum fuhr.«
»Sprich dich aus, Maddie. Wenn du kannst.«
Madeleine nickte. Sie holte tief Luft, dachte an die Sitzungen mit Dr. Mallory, an die Wellen des Entsetzens und Grauens, die Besitz von ihrem Körper ergriffen und endlich verlassen hatten.
»Emma sagte, Richard und sie hätten eine Mission zu erfüllen. Nell sei bei Jack besser aufgehoben. Wenn sie alt genug wäre, würde sie das verstehen. Wir fuhren diese Schotterpiste entlang, in der Mitte von Nirgendwo … vorbei an Häusern mit Wellblechdächern und Wänden aus Teerpappe … mit Schrottautos und ausrangierten Kühlschränken im Hof …«
»Und an dem Haus, in dem Richard in Armut aufgewachsen war«, murmelte Stevie.
Madeleine nickte. »Ich saß am
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