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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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im Leben wünschte, obwohl ihr das so wichtig war, dass es sie – am Ende – ihm und Nell entfremdete.
    Hatte sie ihn jemals richtig geliebt? Oder hatte sie sich nur selbst beweisen wollen, dass sie jeden Mann, auch ihn, bekommen konnte?
    Als er an diesem Abend mit seiner Tochter alleine war, tobte in ihm ein Sturm von Gefühlen, ein Sturm, der so heftig war, dass Blitz und Donner draußen dagegen nichts waren: Als Wiedergutmachung wiegte er seine kleine Tochter, so sanft er konnte. »Ist gut, Nell. Alles ist gut …«
    Die Worte klangen kraftlos. Spürte Nell, wie sein Herz klopfte, gegen seine Rippen hämmerte? Hätte sie auch nur geahnt, welche Gedanken ihm durch den Sinn gingen, welche Worte er ihrer Mutter an den Kopf geworfen hätte, weil sie von ihnen gegangen war, hätte sie nie wieder ein Auge zugetan.
    Das Unwetter verzog sich über den Long Island Sound, hinterließ Frieden, Kühle und frische Luft. Die lastende Schwüle war vorüber, der Bann gebrochen. Noch erstaunlicher war, dass Nell fest schlief. Ihr Atem ging gleichmäßig, so wie damals, als sie ein Baby und Emma noch am Leben war. Sie rührte sich nicht, nicht einmal als Jack sie ins Bett legte.
    »Nell?«, sagte er laut, probehalber. Sie schnarchte leise und regte sich nicht.
    Jack erkannte auf Anhieb, wenn ein Mensch erschöpft war. Sie hatte sich selbst übermüdet. Draußen wurde es hell, der Himmel war klar. Er blickte auf seine Uhr: halb sechs. Er war so überdreht, dass er fürchtete zu explodieren. Obwohl die Hitze vorüber war, hatte er das Gefühl zu verbrennen. Wenn er sich beeilte, konnte er noch schnell eine Runde schwimmen. Der Strand war weniger als eine Minute entfernt.
    Seine Laufschuhe zubindend, sah er noch einmal nach Nell: Sie war völlig erledigt, schlief wie ein Murmeltier. Leise schlich er hinaus, schloss die Tür hinter sich. Er begann, die gewundene Straße entlangzujoggen, aber der Lauf wurde zum Sprint. Er rannte gegen die Gefühle an, die in seinem Inneren brodelten. Seine Füße hämmerten auf den Boden, das Geräusch hallte laut in seinen Ohren wider. Der Strand lag noch im Tiefschlaf. Die Sterne funkelten am dunkelblauen Firmament. Er hätte am liebsten gebrüllt, um die ganze Welt aufzuwecken. Um Emma aufzuwecken.
    An der Strandpromenade – wo er seiner Frau zum ersten Mal begegnet war – verlangsamte er seinen Schritt. Sein Brustkorb schmerzte, und er schlug mit der Hand auf die Stelle, an der sich sein Herz befand. Was wäre, wenn er jetzt tot umfiele? Es wäre so leicht: Der Schmerz würde vergehen, genau wie seine Verwirrung darüber, dass er Emma hasste, ihr grollte, weil sie ihn mit Nell allein gelassen hatte und er nicht wusste, wie er das alles bewältigen sollte. Doch der Gedanke, Nell im Stich zu lassen, brachte ihn wieder zur Vernunft, und er schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben.
    Ein leichter Grauschleier hing im Osten, erhellte den Himmel in der heraufziehenden Morgendämmerung. Die Sterne waren noch zu sehen, weiße Himmelkörper, unter denen der Morgenstern am hellsten schien. Jack setzte sich auf die Bank an der Strandpromenade, um seine Schuhe auszuziehen. Mit einem Mal entdeckte er Stevie.
    Ungefähr zwanzig Meter entfernt überquerte sie lautlos die Fußgängerbrücke. Sie hatte kaum etwas Menschliches, sondern glich eher einer Geistererscheinung, als sie plötzlich in der Dunkelheit auftauchte. Er sah, wie sie auf den Sand hinuntersprang und zur Gezeitenlinie lief, wo der Sand fest war. Sie blieb stehen, auf gleicher Höhe mit ihm, hielt nach rechts und links Ausschau. Einen Moment lang dachte er, sie hätte ihn entdeckt. Er hielt den Atem an.
    Aber sie wandte sich dem Sund zu. Sie blickte aufs Meer hinaus, nach Osten, um den Tag zu begrüßen. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie die ganze Welt umfangen. Der Anblick rührte Jack, weckte Gefühle in ihm, die er längst vergessen glaubte. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit und sah, wie sie ihren Bademantel auf den Sand fallen ließ.
    Ihre nackte Haut war blass im Sternenlicht. Er sah die Rundungen ihrer Brüste und Hüften, holte tief Luft. Er saß auf der Kante des hölzernen Stegs, sprungbereit, als rechnete er damit, dass gleich etwas passieren würde, etwas Unerträgliches. Sie sprang ins Wasser – mit einem Satz, ohne sich vorher abzukühlen.
    Er sah ihr nach, sah ihren Kopf, ihre kräftigen Züge, als sie zielstrebig hinausschwamm. Venus, der Morgenstern, stand im Westen, erhellte ihre Spur.

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