Wege im Sand
Stevies Buch über Pinguinkinder und die Väter, die sie liebten.
7. Kapitel
D ie Julihitze lastete wie ein Fluch über dem Strand, mit langen heißen Tagen, an denen kaum ein Lüftchen wehte. Jack nutzte die Morgenstunden – wenn Nell am Freizeitprogramm teilnahm –, um zu arbeiten. Auf der mit Fliegengitter geschützten Veranda sitzend, telefonierte er mit Ivan Romanov von IR in Inverness, tippte seitenlange Konzepte für dessen Projekt, zeichnete Pläne für seine Bostoner Niederlassung und wünschte, er befände sich in irgendeinem Büro mit Klimaanlage, überall, nur nicht hier.
Am meisten wünschte er sich jedoch, den Hügel hinaufzugehen und mit Stevie zu sprechen.
Nell hatte sich von der Szene in Stevies Haus erholt. Sie hatte sich an jenem Abend in den Schlaf geweint und war am nächsten Morgen still und in sich gekehrt gewesen. Aber sie war zum Strand gegangen, um am Freizeitprogramm teilzunehmen – Jack hatte schon befürchtet, dass sie sich weigern würde –, und schien sich über das Wiedersehen mit Peggy zu freuen. Sie hatte eine Freundin, mit der sie den ganzen Tag spielen konnte.
Jack hätte sich gerne bei Stevie entschuldigt, aber er wusste nicht wie. Er wollte keine schlafenden Hunde wecken. Und Stevie hatte den Kontakt abgebrochen. Es war gewiss besser so. Doch seltsamerweise stellte er fest, dass er ständig an sie dachte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Nell zusammen das Abendessen bei ihr zu wiederholen, aus den nicht zusammenpassenden Gläsern zu trinken, den Sonnenuntergang von ihrem Fenster aus zu betrachten. Noch einmal ihr hinreißendes Lächeln zu sehen.
Was waren das für Gedanken?
Während des Gesprächs mit Ivan Romanov fiel ihm wieder ein, was Stevie über den Fluchttrieb gesagt hatte. Der Glaube, ein Ortswechsel sei ein Allheilmittel, auch wenn das eigentliche Problem im Inneren wurzelte, gehörte zur menschlichen Natur – diese Lektion hatte er schon als Kind gelernt. Madeleine und er waren gemeinsam von zu Hause durchgebrannt, als sie acht und er zwölf war. Ihr Großvater war aus Providence zur Besuch gekommen – er hatte Jacks Zimmer in Beschlag genommen, rauchte Pfeife und schaute sich Fernsehprogramme an, die sonst niemandem gefielen. Er hatte Haare in den Ohren und in der Nase. Er war taub und weigerte sich, sein Hörgerät zu tragen. Maddie fürchtete sich vor ihm, weil er mit polternder Stimme sprach und eine Warze oben auf der Glatze hatte.
Wegzulaufen schien die beste Lösung zu sein; Jack und Maddie waren klammheimlich mit dem Bus zum Elizabeth Park gefahren; sie hatten den Rosengarten besichtigt und nach geeigneten Stellen für ein Baumhaus Ausschau gehalten, wo niemand sie finden würde. Jack begann nach Zweigen zu suchen, die man zusammenbinden und für den Boden des Baumhauses verwenden konnte, doch Maddie fing an zu weinen – weil sie daran denken musste, wie sehr ihre Mutter sie vermissen würde. Jack tat so, als sei er entrüstet, aber insgeheim war er heilfroh über die Gelegenheit, nach Hause zurückzukehren.
Der Gedanke, dass er dieses Mal vor Maddie davonlief – und nicht mit ihr –, machte ihm schwer zu schaffen. Er runzelte die Stirn, konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit und seine Pläne, verbannte seine Schwester aus seinen Gedanken.
Nach Hubbard’s Point zu kommen war in gewisser Hinsicht eine gute Idee gewesen – Nell war wie ihre Mutter. Sie liebte den Strand, hatte das Salzwasser im Blut. Jeden Nachmittag schleppte sie Jack mit zum Schwimmen. Das kühle Wasser war ein Lebenselixier für ihn, wenn er mit Nell zum Floß hinausschwamm. Er stellte fest, dass er den Hügel hinaufspähte, zu Stevies Haus, und sich fragte, was sie gerade tun mochte.
Doch abends war die Situation immer die gleiche, seit dem Unfall. Nicht einmal die salzhaltige Luft konnte Nells Einschlafprobleme beseitigen. Ungefähr eine Stunde nach dem Abendessen begannen die Panikattacken. Seit sie Stevies Buch hatte, musste Jack ihr jeden Abend daraus vorlesen, wieder und wieder, bis er die Geschichte von dem Pinguinvater, der das Ei hütete, in- und auswendig kannte.
Doch sobald er Nell den Gutenachtkuss gegeben hatte, nahm das Drama seinen Lauf. Sie wälzte sich im Bett hin und her, bat Jack, ihr noch ein paar Seiten vorzulesen, sich mit ihr zu unterhalten, ihr den Rücken zu rubbeln. Inzwischen hatte sich daraus ein Muster entwickelt: Teilweise musste er sechs oder sieben Mal zu ihr ins Zimmer gehen, bevor der Morgen graute. In manchen
Weitere Kostenlose Bücher