Wege im Sand
die Gründe, warum er nicht empfinden durfte, was er empfand, waren ernst und schwerwiegend.
Ruth Ann war umwerfend, sportlich. Sie war die führende Cheerleaderin an der South, Jacks alter Highschool. Jack sah sie vor sich: ihre Frisur, den Lippenstift, den Sarong, den sie trug, passend zum Badeanzug. Seine Freunde fanden sie absolut heiß, hielten ihn für einen Glückspilz. Das alles hielt er sich vor Augen, als er auf der hölzernen Strandpromenade stand. Die kleine Emma hatte vermutlich keine Ahnung, welche Wirkung sie auf Männer ausübte. Das konnte keine Absicht sein.
Ein paar Tage später saß Jack eines Morgens am Küchentisch des Cottages, trank Orangensaft und las die Sportseite des Hartford Courant. Es klopfte an der Tür – es war Emma, die Maddie abholen wollte. Sie trug ein gelbes eng geschnittenes Shirt, hautenge Shorts mit abgeschnittenen Hosenbeinen und eine riesige dunkle Sonnenbrille wie ein Filmstar; sie grinste, als sie ihn sah.
»Na, hast mal wieder Basketball gespielt?«
»Ich spiele jeden Tag.«
»Und bist nicht zu mir gekommen, zum Abtrocknen?«
»Nein. Ich habe das Handtuch meiner Freundin benutzt«, erwiderte er, bemüht zu ignorieren, dass er bis ins Mark zitterte.
»Wie geht es ›Stup Ann‹?« Die unsichtbaren Anführungszeichen und die Formulierung klangen durchtrieben und verführerisch zugleich.
»Sie heißt Ruth Ann.«
»Was du nicht sagst.«
»Hüte deine Zunge, Kleine.«
»Ich bin keine Kleine, und das weißt du.«
»Du bist die Freundin meiner Schwester. Lassen wir es dabei, ja?«
»Ist in Ordnung für mich, wenn es für dich in Ordnung ist«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das seine Haut entflammte. Was war sie – eine professionelle Lolita?
»Übrigens, wie alt bist du überhaupt?«
»Genauso alt wie deine Schwester. Sogar ein halbes Jahr älter.«
»Siebzehn?«
»Fast achtzehn.«
»Warum hast du Ruth Ann ›Stup Ann‹ genannt?«
»Weil sie ein bisschen stupid ist – nett anzuschauen, aber hohl in der Birne.«
Jacks Kinnlade fiel herunter – na gut, sie war also fast achtzehn. Offenbar hatte er übersehen, dass Maddie – und ihre Freundinnen – erwachsen wurden. Aber was sollte das, wieso machte sie Ruth Ann so herunter – seine Freundin und das beliebteste Mädchen in der South Catholic?
»Sie scheint überhaupt nicht dein Typ zu sein.« Emma trat einen Schritt näher, nahm die Sonnenbrille von der Nase und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich dachte, du wärst zu gewieft, um auf ein Mädchen wie sie hereinzufallen. Pine Manor? Nicht zu fassen!«
»Nur weil du nach Wellesley gehst …«
»Aha! Du hast also doch gelauscht!«
»Warum willst du dorthin?«
»Weil ich Karriere machen und mit Jungen vom MIT ausgehen will«, erwiderte sie mit einem verruchten Lächeln. »Was fängst du mit einem Mädchen an, das seinen Abschluss auf einer Matratze macht? Das College wird nämlich Pine Matress genannt, falls du es noch nicht wusstest. Das kann einem supergescheiten Jungen wie dir doch nicht genügen.«
»Woher willst du denn das wissen?«
»Ich habe dich aufwachsen sehen, Jack Kilvert«, flüsterte Emma. »Ich weiß mehr über dich als du selbst …«
Jack hätte Emma am liebsten sofort geküsst. Verliebt hatte er sich schon vor drei Tagen in sie – in dem Moment, als sie ihm ihr Handtuch gab. Er hatte zweiundsiebzig Stunden gegen seine Gefühle angekämpft und würde noch weitere Tage mit sich ringen. Ruth Ann und er gingen miteinander. Aber Emma hatte Recht – Ruth Ann konnte ihm nicht das Wasser reichen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil die Gespräche mit ihr ihn bodenlos langweilten. Er versuchte sich einzureden, dass eine so schöne Frau jeden Mann glücklich machen würde – und das, was er an ihr hatte, beinahe jedem Mann genügen würde. Warum also ihm nicht?
Und dann hatte Emma seinen Weg gekreuzt …
Sie hatte ihm den Kopf verdreht, mit Zuckerbrot und Peitsche. Dieser Trick hatte seine Wirkung noch nie verfehlt. Sie hatte sein Herz im Sturm erobert, weil er ihr mehr als alles andere in der Welt beweisen wollte, was in ihm steckte.
Das Verrückte war, dass Emma letztlich mehr mit Ruth Ann gemein hatte, als er erkannte. Zu Beginn ihrer Beziehung hatten Äußerlichkeiten eine große Rolle gespielt. Ein Paar, das füreinander geschaffen zu sein schien, doch sie vergaßen, wirklich eins zu werden, mit Leib und Seele. Im Herzen blieben sie einander fremd. Jack hatte nie ergründen können, was Emma sich wirklich
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