Wege im Sand
schüttelte den Kopf – sie brachte es einfach nicht fertig, darüber zu sprechen.
»Ich werde dir sagen, was mit meinem Dad passiert ist«, sagte Peggy und rappelte sich hoch, um sich neben sie zu setzen. »Es war schlimm. Ich erzähle es dir nur, damit du weißt, dass es nicht nur deine Mom ist … andere Eltern sterben auch.«
»Ich träume nachts davon«, flüsterte Nell. »Dass meine Mutter weg ist. Ich vermisse sie die ganze Zeit. Und ich denke, wenn sie spurlos verschwinden konnte, könnte mir das Gleiche passieren. Als hätte ich nie gelebt. Und das macht mir Angst einzuschlafen. Ich bringe meinen Vater dazu, mich in die Arme zu nehmen, bis ich so müde werde, dass ich meine Augen nicht mehr aufhalten kann. Ich denke, wenn er mich fest genug hält, kann ich nicht verschwinden.« Sie spürte mit einem Mal wieder, wie es war, wenn ihre Mutter sie umarmte – wie sie ihr beim Haarebürsten mit leichter Hand über den Hinterkopf strich. Die Berührung war sanft, fast wie eine Sommerbrise. Ihr Vater gab sich die größte Mühe, aber seine Hand war so schwer …
»Ich habe meine Mutter dazu gebracht, mit mir zu der Brücke zu fahren, wo der Wagen meines Vaters …«
Nell riss die Augen auf. »Ein Autounfall?«
»Ähm, gewissermaßen.« Peggy errötete. »Er wurde … umgebracht. Sein Wagen stürzte in einen Fluss.«
»Meine Mutter hatte auch einen Autounfall.«
»Wirklich?« Peggy sperrte Mund und Nase auf.
»Sie überlebte ihn. Stell dir das vor … ich dachte, sie würde wieder gesund werden. Ich wünschte es mir so sehr …«
»Wie ist der Unfall passiert?«
Nell kauerte sich zusammen; die Arme um die Knie geschlungen, machte sie sich klein. Sie wollte nicht darüber reden. Aber irgendetwas an Peggy bewog sie, alles zu erzählen, Worte dafür zu finden, wie ihre Mutter gestorben war. Dieser Gefühlswandel verwirrte sie so sehr, dass sie keinen Ton herausbrachte. Peggy saß schweigend da, mit ausdrucksloser Miene, und wartete, bis Nell bereit war.
»Meine Tante und sie waren auf dem Heimweg. Meine Tante hatte Geburtstag. Sie war mit meiner Mom übers Wochenende verreist.« Sie schluckte. Die Worte kratzten in ihrem Hals, als besäßen sie Klauen. »Es war das erste Mal, dass meine Mutter und ich getrennt waren.«
»Überhaupt jemals?«
Nell nickte. »Meine Tante kam mit dem Flugzeug zu uns und besorgte einen Leihwagen, einen ganz besonderen, wegen des Geburtstags. Einen Sportwagen. Er sah schön aus und war rot … Sie fuhren nach St. Simons Island. Früher habe ich St. Simons Island geliebt … es war unser Lieblingsstrand in Georgia …«
»Und die beiden hatten einen Unfall?«
»Mmh-mh.«
»Bist du böse auf deine Tante, wenn du sie siehst?«
»Ich sehe sie nicht.«
»Weil du sie hasst wegen dem, was passiert ist?«
»Nein …« Nell ergriff eine Hand voll Sand und ließ ihn durch die Finger auf ihr Knie sickern. Die Körner verfingen sich in den feinen blonden Haaren, rieselten langsam an ihrer Haut hinab. Sie tat es wieder und wieder. Das Komische war nur, dass es sich anfühlte, als befände sich der Sand in ihrer Kehle. Als hätte sie so viel Sand verschluckt, dass ihr das Schlucken schwer fiel. »Ich liebe meine Tante.«
»Warum seht ihr euch dann nicht?«
»Mein Vater wird ihr niemals verzeihen. Das, was passiert ist.« Die beiden Freundinnen schwiegen. Nell hielt die Meerglas-Stücke in der Hand, die sie gesammelt hatte, fuhr mit dem Daumen über die glatte Fläche.
Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass es lange dauerte, bis Meerglas entstand. Man musste die Stücke zurückwerfen, die nicht formvollendet waren – zu scharf oder zu glänzend, von den Wellen noch nicht glatt genug geschliffen. Abermals die Augen schließend, dachte Nell an ihre Mutter, an ihre Tante und an Stevie. Sie fragte sich, ob die drei jemals an dieser Stelle gesessen hatten. Und ob das Meerglas bereits da gewesen war; vielleicht hatte eine von ihnen es in die Hand genommen und ins Meer zurückgeworfen, weil es noch nicht formvollendet war.
Schön, wenn es so gewesen wäre, dachte Nell. Sehr schön …
8. Kapitel
D ie nächsten drei Morgen waren dunkel und klar, und jedes Mal, wenn Stevie die Brücke überquerte, um schwimmen zu gehen, blickte sie zur Strandpromenade hinüber, wo sie Jack warten sah. Tageslicht begann sich am Himmel auszubreiten, noch bevor die Sonne richtig aufging. Während Stevie schwamm – nun im Badeanzug –, sah sie die Sterne verblassen, so dass nur die
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