Wege im Sand
Jack verrenkte sich schier den Hals, um sie im Blick zu behalten. Er fühlte sich unglaublich schuldig und untreu angesichts der Gedanken, die ihm kamen. Doch er spürte, wie die Leidenschaft ihn übermannte, und wäre am liebsten ins Wasser gesprungen, wäre Stevie so schnell wie möglich hinterhergeschwommen, um ihr in den Wellen zu begegnen.
Einen Augenblick lang verlor er sie aus den Augen – und war einer Panik nahe – wo steckte sie? War sie untergegangen? Er suchte mit seinen Blicken das Wasser rund um das Floß ab, das ungefähr fünfzig Meter vom Ufer entfernt lag, und den direkt dahinter befindlichen großen Felsen.
Sie brauchte niemanden, der sie rettete: Sie schwamm am Floß vorbei, geradewegs auf den Felsen zu. Jack erinnerte sich, dass er ihn als kleiner Junge oft aufgesucht hatte. Er war mächtig, aus Granitgestein, ideal, um sich wie ein Schiffbrüchiger zu fühlen. Muscheln und Rankenfußkrebse bedeckten seine Oberfläche; Hummerkörbe waren vom Sturm angeschwemmt worden, die Leinen hatten sich an den schartigen Felsvorsprüngen verfangen.
Jack sah, wie sie sich aus dem Wasser hochzog und den Felsen erklomm. Sie war nackt und wunderschön, das schwarze Wasser nahm eine silberne Färbung an, als es an ihrem Körper hinabströmte. Wieder breitete sie die Arme aus, als wollte sie einen unsichtbaren Geliebten umfangen, dann sprang sie kopfüber zurück ins Wasser. Sie näherte sich stetig dem Ufer. Würde sie ihn entdecken? Jacks Herz klopfte wie verrückt. Er fühlte sich hin- und hergerissen – sein Kopf sagte ihm, dass es klüger war, sich zu verstecken, sein Herz drängte ihn, aufzustehen und sich zu erkennen zu geben.
Aber er rührte sich nicht. Sie ging nicht zuletzt deshalb vor Sonnenaufgang schwimmen, weil sie allein sein wollte. Das war ihr Strand. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Der weiße Sand, das tiefblaue Meer, Granit, Quarz, Mondsteine, das vom Wasser kunstvoll glatt geschliffene Meerglas und der geheimnisvolle Strandhafer gehörten ihr: Sie befanden sich um diese Zeit in ihrem alleinigen Besitz. All diesen Menschen, die sich tagsüber hier aufhielten, wenn die Sonne schien, die ihre Decken, Liegestühle und Sonnenschirme ausbreiteten, entging dieser geheime Zauber.
Stevie wusste darum. Sich lautlos zurückziehend, kam es ihm beinahe so vor, als hätte sie das Unwetter heraufbeschworen, der Nacht Kühlung verschafft. Er wartete, um ihren Körper erneut zu betrachten, dieses Mal aus größerer Nähe, silbrig vom Meerwasser. Er war wie in Trance. Ein Teil von ihm wünschte sich nichts sehnlicher, als das Salz auf ihrer Haut zu schmecken – er wusste, dass dieses Gefühl falsch war, hatte keine Ahnung, woher es kam. Dennoch war der Wunsch, sie anzuschauen, so übermächtig, dass er spürte, wie es ihn hinunterzog – zum Meeresufer, zur Gezeitenlinie.
Stattdessen drehte er sich um, um ihr den Strand zurückzugeben.
Schnell und in der Hoffnung, dass sie ihn nicht gesehen hatte, griff er nach seinen Schuhen und lief den Sandweg zu dem Haus zurück, in dem seine Tochter schlief.
Stevie entdeckte Jack in dem Moment auf der Strandpromenade, als sie das Ufer erreichte. Ihr Herz drohte auszusetzen – wartete er auf sie? Hatte er ihr beim Auskleiden zugesehen? Wie konnte sie das Wasser verlassen, solange er dort stand? Sie sah, wie er zögerte, als ob er sich nicht entscheiden konnte, zu ihr zu gehen. Doch dann wich er zurück, nahm seine Schuhe von den Holzplanken, stapfte die Straße entlang.
Der Strand gehörte wieder ihr, wie jeden Tag um diese Zeit. Sie wartete darauf, dass sich das Gefühl der heiteren Gelassenheit einstellte, der Verbindung mit den Rhythmen und den Geheimnissen der Erde, die sie stets aufs Neue empfand – doch ihre Gefühle befanden sich in Aufruhr.
Als sie ihn dort stehen sah, in dem Bruchteil von Sekunden, bevor er sich abwandte, hatte sie seine Sehnsucht nach Nähe wahrgenommen. Seine Körperhaltung verriet ihn. Das Gefühl war ihr vertraut, weil es ihr nicht anders erging. Seit frühester Kindheit, seit dem Tod ihrer Mutter, hatte sie dieses hilflose Sehnen verspürt; sie versuchte es mit den verschiedensten Mitteln zu befriedigen. Sie hatte sich jedes Mal zu heftig und jedes Mal in den falschen Mann verliebt, war bis ans Ende der Welt gereist, um sich selbst zu entfliehen, hatte nach den Sternen gegriffen, die sich als billige Lichter entpuppten.
Stevies Sehnsucht war tief verwurzelt und endlos; sie wusste, dass sie so lange nach der
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