Wege im Sand
Nächten begann Nell vor Frustration und Erschöpfung zu weinen, konnte nicht mehr aufhören – sie vermisste ihre Mutter mit jeder Faser ihres Körpers.
Eines Abends brach ein furchtbares Unwetter über das Connecticut-River-Tal herein. Blitze zuckten am Himmel. Donnerschläge ließen die Bäume erzittern. Der Sturm erreichte die Stärke eines Orkans. Das Tosen erschreckte Nell. Sie klammerte sich wie ein Koalabär an ihren Vater, wimmernd und zitternd.
Jack hielt sie umschlungen, unfähig, sie zu trösten. Stevies Buch hatte die Leere hervorgehoben, die er empfand – sie hatte seinem Leben einen neuen Sinn verliehen, hatte es in Worte und Bilder gekleidet. Wie konnte er dem Anspruch gerecht werden, Nell Vater und Mutter zugleich zu sein? Doch die Begegnung mit Stevie, das Gespräch mit ihr, das sich auf ein einziges Mal beschränkte hatte, gab ihm das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.
Es war unglaublich selbstsüchtig von ihm, Nell von Madeleine fern zu halten – und Pläne für Schottland zu schmieden. Er versuchte sich einzureden, dass der Umzug für seine berufliche Laufbahn gut war. Es war ein weiterer Schritt auf der Karriereleiter, die Firma zu wechseln und direkt für einen so wichtigen Kunden zu arbeiten. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er wieder einmal davonlief – und Nell mitschleppte.
Plötzlich überkam ihn eine siedendheiße Wut auf Emma. Nicht auf Madeleine – auf Emma. Er wiegte Nell in den Armen, versuchte sich krampfhaft an ein Schlaflied zu erinnern – irgendeines –, überwältigt vom Hass auf seine verstorbene Frau.
Die er mehr geliebt hatte als sein eigenes Leben. Er hatte sich genau hier in Emma verliebt, in Hubbard’s Point. Sie war hübsch und fröhlich gewesen, konnte aber auch scharfzüngig sein. Sie waren sich auf der Strandpromenade begegnet. Er stand dort nach einem Basketballspiel, verschwitzt und schmutzig, um sich in der Meeresbrise abzukühlen. Sie gesellte sich zu ihm und reichte ihm das Handtuch, das sie um ihre Taille geschlungen hatte.
»Das brauchst du«, sagte sie scherzhaft.
»Entschuldigung?« Erschrocken hatte er sie angestarrt, wie sie dastand in ihrem rosa karierten Bikini, eine Goldkette um den Hals und weitere Goldkettchen um Handgelenk und Fußknöchel. Sie hatte Busen. Einen nicht zu übersehenden Busen. Er hatte bisher nie darauf geachtet – schließlich war sie eine Freundin seiner kleinen Schwester. Sie war am Wochenende zuvor bei ihnen zu Hause gewesen, als Jack Besuch von seinen Freunden aus Hartford bekommen hatte. Jacks Freundin Ruth Ann O’Malley war ebenfalls da, und er hatte bemerkt, dass Emma sich mit ihr über verschiedene Colleges unterhielt.
Beide Mädchen waren ausnehmend hübsch. Emma war ihm schon aufgefallen, als Maddie sie zum ersten Mal mit nach Hause brachte. Ruth Ann war keine ehrgeizige Studentin – daraus machte sie auch keinen Hehl. Sie besuchte das Pine Manor, ein Junior-College unweit des MIT , an dem Jack studierte. Jack war überzeugt gewesen, dass Emma den gleichen Weg wählen würde, was die Ausbildung betraf – den einfachsten –, aber er täuschte sich: Er hörte, wie sie Ruth Ann erzählte, dass sie gerne entweder auf das Wellesley oder das Smith gehen würde.
»Du schwitzt«, sagte sie nun.
»Was du nicht sagst. Ich habe gerade mit einem Korb gekämpft.«
»Wer hat gewonnen?«
Er lachte, ohne es zu wollen. Sie schien sich ihrer selbst völlig sicher zu sein – sie besaß mehr Selbstvertrauen als die meisten Mädchen ihres Alters; sie gehörte, genau genommen, zur gleichen Liga wie Ruth Ann.
»Ich«, erwiderte er.
»Hmmm. Ich wusste gar nicht, dass Mathe-Studenten neben ihrem Faible für Zahlen auch Ballsportarten mögen.«
Waren die Worte so doppeldeutig gemeint, wie sie klangen? Jack schwindelte; er wollte sich nicht anmerken lassen, dass er sie falsch eingeschätzt hatte: Er hatte sie nach ihrem Aussehen beurteilt statt nach ihren geistigen Fähigkeiten, und er wäre nicht überrascht gewesen zu erfahren, dass sie eine Anstellung bei den Seven Sisters, den sieben größten Ölkonzernen der Welt anstrebte. Als er sich abgetrocknet hatte, nahm sie das Handtuch, stellte sich auf die Zehenspitzen und wischte ihm damit über die Stirn.
»Die hast du vergessen«, sagte sie.
Seine Knie drohten nachzugeben, als sie das Handtuch über seine Haut gleiten ließ, ihre Brüste gegen seinen Brustkorb gepresst. Sie war Madeleines Freundin, außerdem hatte er bereits ein Mädchen …
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