Wege im Sand
hellsten Planeten übrig blieben. Sie besaßen einen faszinierenden Zauber, der zwischen Romantik und Erotik angesiedelt war. Stevie fühlte sich benommen, verwirrt. Als wüsste er um ihren Zustand und wollte sie nicht damit alleine lassen, pflegte Jack zu waren, bis sie heil dem Meer entstieg; dann drehte er sich um und kehrte nach Hause zurück.
Am vierten Morgen wachte sie früher auf als sonst. Die Luft war wieder schwül, dunstig und zum Schneiden dick. Sie hörte das Nebelhorn des Leuchtturms von Wickland Shoal in weiter Ferne. Sie stellte sich vor, dass Jack es ebenfalls vernahm. Seltsame Geheimnisse verbanden sie – sie hatten nur wenige Worte miteinander gewechselt, aber sie konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Die Laken fühlten sich sinnlich auf ihrem Körper an, erinnerten sie an die federleichte Berührung des Meeres. Ihre Schenkel schmerzten, ihre Brustwarzen brannten. Die Empfindungen waren lustvoll, weckten den Wunsch in ihr, mit einem Mann zu schlafen, den sie kaum kannte.
An diesem Tag verzichtete sie darauf, schwimmen zu gehen.
Tilly lag auf dem Schreibpult, bereits hellwach, die grünen Augen glühend. Der Blick war anklagend, schien ihr Feigheit vorzuwerfen. »Ich weiß«, sagte Stevie. Sie stand auf, zog sich an und versagte es sich, aus dem Fenster zu schauen, um zu sehen, ob Jack auf der Strandpromenade war. Sie fütterte ihre Katze und den Vogel, doch statt an den Strand hinunterzugehen, stieg sie in ihr Auto und verließ Hubbard’s Point.
Sie fuhr die Shore Road entlang, durch die Marsch und am Lovecraft-Naturschutzgebiet vorbei. Die Luft war drückend, schwül und verhangen. Silberreiher fischten in den flachen kleinen Buchten, bleiche Wächter, die ihre Köpfe hoben, als sie vorüberfuhr. Stevie stellte sich vor, dass die Vögel ihre Ankunft im Schloss meldeten, das mit seinem efeubewachsenen steinernen Turm und der verfallenden, mit Zinnen versehenen Brustwehr direkt über der Baumlinie sichtbar wurde. Sie fuhr unter dem steinernen Torbogen durch, drückte auf die Hupe, als sie das Pförtnerhaus aus Feldstein passierte, in dem Henry wohnte; dann ging es die steile Zufahrt hinauf – der glatte Asphalt ging in einen unbefestigten Sand- und Kiesweg über. Oben angekommen, roch sie Kaffee.
Es war erst sechs Uhr morgens, und Nebelschwaden hingen in den Kiefern. Stevie atmete tief ein, lauschte dem leisen Klang des Nebelhorns – Wickland Shoal. Das Schlossgelände, hoch droben auf dem Lovecraft Hill gelegen, blickte auf den Connecticut River und den Long Island Sound hinaus, und die Geräusche des Wassers trugen weit, als wäre es nicht Meilen, sondern nur einen Steinwurf entfernt.
Stevies Tante und Mentorin Aida Moore Von Lichen lebte und malte hier. Sie war neunundsiebzig und hätte für dreißig durchgehen können, denn sie besaß mehr Vitalität und Elan als die meisten Leute, die ein Viertel so alt waren wie sie. In Irland geboren, hatte sie sich als abstrakte Expressionistin einen Namen gemacht. Aus der Cedar-Tavern-Künstlergruppe in New York hervorgegangen, war sie als Malerin genauso bekannt wie ihr Bruder als Literat.
Tante Aida war Besitzerin des Schlosses – eine Torheit, von ihrem zweiten, bedeutend älteren Ehemann in den 1920er Jahren erbaut: Van von Lichen, Erbe eines mit Kugellagern erworbenen Vermögens und Shakespeare-Darsteller, der es in der Rolle des Jago und Falstaff zu Ruhm und größerer Bekanntheit gebracht hatte. Er war vor zwanzig Jahren verstorben, nachdem er den Großteil seines ehemals beträchtlichen Erbes durchgebracht hatte. Da Tante Aida der Wunsch nach Grandezza und in jedem Fall das Geld fehlte, das für den Unterhalt des Schlosses erforderlich gewesen wäre, hatte sie es zu einer von Fledermäusen und Mäusen geplagten Ruine verkommen lassen und sich in einen kleinen hölzernen Anbau ohne sanitäre Einrichtungen zurückgezogen. Sie bezog ihr Wasser aus einer alten weißen Pumpe mit schmiedeeisernen Schnörkelverzierungen. Als glühende Umweltschützerin liebte sie das einfache Leben. Im Sommer hielt sie sich in Black Hall, im Winter in den Everglades auf. Ihr Stiefsohn Henry, ein unlängst pensionierter Marineoffizier, verbrachte die Sommermonate im Pförtnerhaus des Schlosses.
»Hallo Lulu!«, rief Henry ihr zu, als sie den Rest des Hügels zu Fuß erklomm. Fünfzig und attraktiv wie ein Filmschauspieler, schien eine Schlossruine genau die richtige Kulisse für ihn zu sein.
»Hallo Commander!«
Er hatte ihr wegen ihrer dunklen
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