Wege im Sand
erinnerte sich an den tief hängenden Nebelschleier, die grünen Hügel, den gewundenen Fluss, der in den Meeresarm mündete.
»Ich fange nichts. Ich werde nie etwas fangen«, hatte Maddie gejammert.
»Du musst Geduld haben«, hatte ihr Vater gesagt. Maddie hatte ihren Bruder angesehen, der eine Grimasse zog und die Schultern zuckte.
»Jack, wenn du einen Fisch fängst und ich nicht, bringe ich dich um.«
»Du wirst vor mir einen kriegen. Da möchte ich wetten.«
»Haust das Ungeheuer von Loch Ness hier?«, hatte Madeleine gefragt und Jack an der Hand gezupft. Sie war zehn und er vierzehn, und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre er lieber wieder in Hartford bei seinen Freunden gewesen.
»Nein«, hatte er geantwortet, um sie zu ärgern. »Hier gibt es ein viel schlimmeres Ungeheuer. Das Flussmonster.«
»Was ist denn das?«
»Es ist besser, wenn du es nicht weißt, glaube mir, Maddie.«
»Doch, doch! Ich möchte es aber unbedingt wissen!«
Ihr Vater und der einheimische Führer angelten ernsthaft, während Jack und Maddie ihre Ruten nur in der Hand hielten und schwatzten. Jack beschrieb das Flussmonster: lang und schleimig wie eine Schlange, eine weiße Schlange, die in der tiefsten unterirdischen Höhle des Flusses lebte. Es ernährte sich bevorzugt von Lachs, und wenn die Fische anbissen, konnte es jeden Moment hinter ihnen auftauchen – um aus dem Wasser hochzuschnellen und sich Fisch und Fischer zu schnappen.
»Siehst du?«, meinte Jack. »Wir können von Glück sagen, dass wir nichts fangen.«
Madeleine hatte gelacht – sie hatte ihn durchschaut und gewusst, dass er sie lediglich aufmuntern wollte. Jack hoffte nun, bei Nell die gleiche Wirkung zu erzielen.
Er wollte sie nach Schottland mitnehmen, um Kummer und Sorgen zu verscheuchen. Er würde nie vergessen, wie glücklich Madeleine während der damaligen Urlaubsreise gewesen war. Sie liebte das Heidekraut, die Dudelsäcke und das klare braune Wasser der Bäche, die sich über das Torfmoos ergossen. Da Schottland seiner kleinen Schwester dermaßen gut getan hatte, würde der Aufenthalt vielleicht auch bei Nell ein Wunder wirken.
Es musste einfach so sein.
Er rollte die Blaupausen zusammen, steckte sie in die Röhre. Dann packte er Reiseunterlagen und Stevies Bücher in seinen Aktenkoffer und verließ das Büro. Er hoffte, dass er Francesca nicht über den Weg laufen würde, was ihm erspart blieb. Er verabschiedete sich von der Empfangssekretärin, stieg in den Fahrstuhl und eilte zu seinem Wagen. Nell war in guter Obhut, mit Peggy und ihrer Familie am Strand. Er wusste, dass sie ungeduldig auf seine Rückkehr wartete – sie hatte Angst, wenn er zu lange ausblieb.
Vor allem aber war er froh, dass er neue Bücher von Stevie Moore besorgt hatte, die er ihr vorlesen konnte. Er liebte Eulennacht, brachte es jedoch nicht übers Herz, das Buch von den Kaiserpinguinen wieder in die Hand zu nehmen. Es erinnerte ihn an das Gespräch, das er mit Stevie in ihrer Küche geführt hatte. Als er sich mit aller Macht zurückhalten musste …
Er hatte Nell das Pinguin-Buch immer wieder vorgelesen, an den Abenden vor den drei Tagen, als er in der Morgendämmerung zum Strand gegangen und Stevie heimlich beim Schwimmen beobachtet hatte.
Er vermisste diese Morgen, mehr als er für möglich gehalten hätte. Bei der Erinnerung an ihre Silhouette, die sich vor der aufgehenden Sonne abzeichnete, bekam er immer noch eine Gänsehaut. Er hatte zugeschaut, wie sie in das dunkle Wasser eintauchte, an die Oberfläche kam, um Luft zu holen, wie sie zum Felsen geschwommen war. Warum hatte er die Gelegenheit nicht einfach beim Schopf gepackt – und war ihr nachgeschwommen?
Sie musste ihn gesehen haben, doch als er neulich bei ihr gewesen war, hatte sie nichts davon erwähnt. Was mochte sie dabei empfunden haben? Wenn sie entrüstet oder wütend gewesen wäre, hätte sie ihn dann nicht darauf angesprochen?
Die Erinnerung war wie ein verborgenes Laster – niemand durfte davon erfahren: von der Tatsache, dass er sich nach jenen Morgen sehnte, als er Stevie nachspioniert hatte. Diese Sehnsucht war ihm unter die Haut gegangen, er spürte sie nicht nur in seinen Lenden, sondern in jeder Handbreit seines Körpers. Er redete sich ein, dass eine Beziehung für ihn nicht in Frage kam – Nell und er waren noch lange nicht so weit. Dass Nell Stevie mochte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Und dass sie aus eigener Erfahrung wusste, was es hieß, die Mutter zu
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