Wege im Sand
verlieren, fiel kaum ins Gewicht; oder dass sie ihn darin bestärkt hatte, mit Nell zu Dr. Galford zu fahren, weil sie dringend Hilfe brauchte. Sie hatte ihm in einer Krisensituation beigestanden, aber das zählte nicht wirklich.
Oder doch?
Nein, körperliches Begehren war ein Terrain, das ihm sicherer schien als jeder andere Beweggrund, der zu einer echten Beziehung führen konnte. Was er für Stevie empfand, war nun einmal Begehren.
Trotz der Tatsache, dass seine Tochter sie liebte.
Wenn Stevie nur nicht so verbohrt gewesen wäre, was Madeleine betraf – und seine Schwester zu allem Überfluss auch noch nach Hubbard’s Point eingeladen hätte. Jack wurde mulmig bei der Überlegung, wann sie dort auftauchen könnte. Er würde sich heraushalten. Dieses Thema war ein für alle Mal erledigt. Seine Schwester war für ihn gestorben. Das kleine Mädchen, dem er so nahe gestanden hatte – in Schottland, in der Schule in Hartford, beim Tennisspielen am Strand –, gehörte der Vergangenheit an.
Nell konnte nicht verstehen, warum er keinen Wert darauf legte, Madeleine jemals wiederzusehen oder auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln – und er betete, dass sie es niemals erfahren würde. Sollte es trotzdem geschehen, würde sie ihm dankbar sein, dass er den Kontakt so rigoros abgebrochen hatte.
Er stieg in seinen Wagen und fädelte sich in den Bostoner Verkehr ein, fuhr die lange Strecke zum Strand zurück.
Die Sehnsucht, die Fantasie und das Bild von Stevie, die aus dem Wasser stieg, während silberne Tropfen an ihrem schlanken geschmeidigen Körper hinabperlten, hatten ein Gutes: Sie hatten nichts mit Vernunft oder gesundem Menschenverstand zu tun.
11. Kapitel
D ie erste Flasche Champagner war ein Genuss und ging runter wie Öl, so dass es Madeleine kaum erwarten konnte, die zweite zu öffnen. Obwohl es wenig Spaß machte, allein zu trinken – während Stevie die ganze Zeit bei ihrem Ginger Ale blieb. Madeleine tat, als bemerkte sie es nicht.
»Erzähl mir von dir«, sagte sie. »Lebst du eigentlich das ganze Jahr hier?«
»Nein. Die Wintermonate verbringe ich in New York City; ich komme erst Ende Mai her.«
»Das ist ein Vorteil, wenn man freischaffende Künstlerin ist – die Flexibilität. Ich arbeite an der Brown University, in der Programmentwicklung, genauer gesagt, bin ich für die Finanzmittelbeschaffung zuständig.«
»Providence ist eine wunderschöne Stadt. Ich habe dort studiert, an der RISD . Wo ich meinen ersten Mann kennen gelernt habe.«
Madeleine hatte schon überlegt, wie sie das Thema Ehemänner anschneiden sollte, und war froh, dass Stevie es selbst zur Sprache brachte. Sie trank einen Schluck Champagner.
»Kevin hatte Köpfchen und Talent. Wir verliebten uns gleich in der ersten Woche nach Beginn des Studiums ineinander. Er war ein ungeschliffener Diamant – ein Zauberkünstler der Linienführung. Er arbeitete mit den einfachsten Mitteln … minimalistisch … ohne Kinkerlitzchen. Die RISD -Absolventen sind teilweise sehr progressiv, avantgardistisch …«
»Die Ausstellung der Graduierten ist gewiss sensationell.«
Stevie nickte. »Kann man wohl sagen. Ungezügelt, brillant. Kevins Werke hatten allerdings einen beinahe klassischen Anstrich. Er liebte Formen; er arbeitete gerne in Kohle auf Papier. Sein Meisterwerk erinnerte mich an Picasso. Kein Kubismus, aber Linien …«
»Und dann habt ihr geheiratet?«
»Ja, noch während der College-Zeit. Heimlich …«
»Ich erinnere mich, dass du schriebst, du würdest mir später alles haarklein erzählen. Danach habe ich nie wieder von dir gehört, wenn ich mich recht erinnere.«
Stevie seufzte. »Stimmt vermutlich. Ich war ständig auf der Suche …«
»Was für eine Suche?«
»Nach künstlerischer Inspiration und Liebe.«
Madeleine lachte. »Ich dachte, du hättest beides gefunden.«
Stevie schüttelte den Kopf. »Mir wurde beides in die Wiege gelegt. Wie den meisten Menschen, nehme ich an. Doch dann verbringen wir unser Leben damit, die Dinge komplizierter zu machen, als sie sind. Meine Eltern liebten mich sehr. Dadurch war ich – vielleicht nicht gerade verwöhnt –, aber ein für alle Mal geprägt. Ich hatte hohe Erwartungen. Ich dachte, das Leben müsste, würde immer so sein. Selbst nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater …«
»Dein Ein und Alles. Ich weiß.«
»Genau. Er liebte mich über alle Maßen. Ich stand für ihn stets an erster Stelle, und er gab mir das Gefühl, alles erreichen zu können,
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