Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
dachte Jack, nicht mehr und nicht weniger. Die unerschütterliche Überzeugung, dass man den Tag durchsteht, den Sommer, den Mondaufgang. Die unerschütterliche Überzeugung, dass er mit dem Umzug nach Schottland die richtige Entscheidung getroffen hatte. Zweifelnd blickte er zu Nell hinüber.
    Die Geheimnisse des Lebens. Nell stand neben ihm im Sand, schmiegte sich an ihn. Seine Tochter gehörte zu den drei unergründlichen Geheimnissen, die auf seiner Liste ganz oben standen, gemeinsam mit dem Vollmond.
    Und Stevie Moore.

14. Kapitel
    D as Schloss bot einen atemberaubenden Anblick, selbst zu den gewöhnlichsten Zeiten: an einem sonnigen Aprilmorgen oder an einem trübseligen Nachmittag im November, wenn alles grau in grau war. Doch in den Nächten, wenn die Himmelskörper in Bewegung waren, wenn der Mittsommermond aufgehen sollte und die Vorfreude groß war, wirkte das Schloss wie verzaubert.
    Stevie fuhr den Hügel hinauf. Die Luft war lau, angefüllt mit dem Duft von Geißblatt und Kiefern. Als sie ihren Wagen abgestellt hatte und sich gerade zu Fuß auf den Weg zum Cottage ihrer Tante machen wollte, hörte sie, wie vom Schloss aus ihr Name gerufen wurde. Ihre Tante war im Turm, winkte ihr zu. Stevie nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und erklomm den steilen Pfad.
    Obwohl der Zahn der Zeit an ihm nagte, war das Schloss noch immer ein imposantes Bauwerk. Eichenbalken, schwere Bleiglasfenster, Steinböden. Stevie war schon als Kind gerne hier, als Tante Aida frisch verheiratet war. Sie hatte sich glücklich geschätzt, weil sie in einem echten Schloss spielen durfte. Heute Abend erging es ihr genauso, und sie wünschte sich, sie könnte Nell herbringen, um es ihr zu zeigen.
    Die Wendeltreppe des Turms schraubte sich endlos in die Höhe; als sie hinaufstieg, schreckte sie die Fledermäuse in dem steinernen Durchgang auf, der beklemmend finster und moderig war. Am Ende angekommen, betrat sie das offene Obergeschoss mit der geschnitzten Balustrade, wo sie ihre Tante vorfand. Die frische Luft war eine Wohltat, und der Ausblick über die Baumwipfel bis hin zur Flussmündung und zum Sund hinunter war einzigartig.
    »Hallo, wo steckt denn Henry?«, fragte sie.
    »Er ist nach Newport gefahren, in der Hoffnung, mit Doreen reden zukönnen«, erwiderte Tante Aida.
    »Ohne vorher anzurufen?«
    »Den Versuch hat er wohl aufgegeben. Er wollte einfach bei ihr aufkreuzen und abwarten, was passiert.«
    »Ganz schön mutig.«
    »Ich hatte den Eindruck, trotz aller Gefechte auf See und in der Schlacht war ihm nie so mulmig zumute wie jetzt, bei dem Gedanken, Doreen für immer zu verlieren. Das Schlimmste ist, dass er sich das Ganze selbst zuzuschreiben hat, was er auch weiß.«
    Stevie nickte. Sie kannte das Gefühl. Von ihren eigenen Wünschen und Ängsten angetrieben, hatte auch sie nichts als Unheil angerichtet – bei sich selbst und anderen. Vorhin war sie hin- und hergerissen gewesen. Einerseits wollte sie auf dem Point bleiben in der Hoffnung, Nell und Jack über den Weg zu laufen. Andererseits fürchtete sie, die Situation nur noch schlimmer zu machen.
    Die beiden Frauen sahen nach Osten, in die Richtung, wo der Mond aufgehen würde. Die Sonne war inzwischen vollends untergegangen, und der Wald erwachte zum Leben, angefüllt mit den Geräuschen der Nacht: Grillen, Jäger, die auf der Suche nach Beute durch das Unterholz streiften, und der Ruf des Ziegenmelkers, der von den Lowcraft-Marschen herüberschallte.
    Tante Aida trug statt der üblichen Malerkluft einen Hosenanzug aus schwarzer Seide im Mandarinstil, aber sie roch immer noch nach Terpentin und Ölfarbe. Stevie liebte diesen Geruch, den sie als tröstlich empfand.
    »Und was ist mit dir?«, fragte Tante Aida nach ein paar Minuten. »Warum bist du bei mir statt bei deinen Freunden?«
    »Freunde?«
    Ihre Tante sah sie mit einem nachsichtigen Lächeln an; es besagte, dass sie Stevie durchschaut hatte, als sie mit Vorbedacht die Begriffsstutzige spielte. »Ich spreche von diesem Mann und seiner kleinen Tochter. Wie hießen die beiden gleich wieder?«
    »Jack und Nell.«
    »Ach ja. Und seine Schwester?«
    »Madeleine. Sie war bei mir. Nach meinem letzten Besuch bei dir habe ich sie zur mir nach Hause eingeladen.«
    »Eine gute Idee.«
    »Schön wär’s, aber da habe ich inzwischen meine Zweifel. Anfangs war alles in Butter. Bis ich ihr sagte, dass Jack und Nell die Ferien in Hubbard’s Point verbringen, ein paar Häuser weiter. Sie war völlig außer sich und

Weitere Kostenlose Bücher