Wehe Dem, Der Gnade Sucht
sich auch Lee diese Frau vor, wie sie nackt und voller Verlangen auf ihn wartete.
Elena Krieger stand auf und durchquerte mit drei Schritten Chucks Büro.
»Hallo, ich bin Elena Krieger.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Lee und schüttelte die dargebotene Hand. Sie war kühl und kräftig.
»Und Sie müssen der berühmte Lee Campbell sein.«
Lee lachte und fühlte, dass er errötete.
»Das höre ich zum ersten Mal.«
»Natürlich sind Sie berühmt. Was mit Ihrer Schwester passiert ist, war wirklich schrecklich.«
Lee wich ihrem Blick aus. Der machte ihn nervös. Rasch drehte er sich zur Tür um, die er absichtlich offen gelassen hatte.
»Wo ist Chuck eigentlich?«, fragte er und tat, als würde er auf dem Flur nach ihm Ausschau halten.
»Der kommt gleich wieder«, antwortete sie. »Das muss damals eine schlimme Zeit für Sie gewesen sein und dann auch noch der Nervenzusammenbruch … Geht es Ihnen denn wirklich wieder gut genug, um zu arbeiten?«
Die Bemerkung traf ihn. Lee wandte sich um und schaute Krieger an. Das Verschwinden seiner Schwester Laura vor fünf Jahren war der Grund dafür, dass er seine Arbeit als Therapeut aufgegeben hatte, um Profiler zu werden. Und sein noch nicht so lange zurückliegender Nervenzusammenbruch war zwar kein Geheimnis, aber wohl doch seine Privatangelegenheit. Offenbar hatte Elena Krieger sich über ihn informiert.
»Mir geht es gut«, erklärte er ruhig. »Danke der Nachfrage.«
Bevor sie etwas entgegnen konnte, kam Chuck Morton herein. Er schaute zwischen Lee und Elena hin und her.
»Sie beide haben sich also bereits miteinander bekannt gemacht«, stellte er fest.
»Ja«, erklärte Elena gedehnt.
»Dann fangen wir gleich an.«
Lee war überrascht. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Krieger ebenfalls in diesem Fall ermittelte. »Ist Detective Butts nicht mit der Sache betrau–«
Chuck schnitt ihm das Wort ab. »Ja, schon, aber Detective Krieger ist zu uns versetzt worden und arbeitet nun ebenfalls an dem Fall. Sie ist Expertin für forensische Linguistik.«
Lee fand, dass zwei Detectives hier einer zu viel waren. Aber er behielt das lieber für sich, weil er spürte, dass Chuck Elena Krieger eigentlich genauso wenig dabeihaben wollte. Ganz offensichtlich hatte man sie Chuck zugeteilt, um sie loszuwerden, und jetzt saß er mit dem Schwarzen Peter da.
»Wo ist Detective Butts denn überhaupt?«, erkundigte sich Krieger. »Sollte er jetzt nicht ebenfalls hier sein?«
»Ist er auch«, war eine Stimme zu hören. Detective Leonard Butts stand mit einem Kaffee und einer Packung Donuts in der Tür.
»Schön, dass Sie es doch hergeschafft haben«, begrüßte ihn Chuck. »Setzen Sie sich.«
»Ich habe meiner Frau gesagt, dass sie allein zur Beerdigung ihres Onkels muss, und dass ich später zum Kaffeetrinken dabei bin. Hat ihr nicht gefallen, aber da war halt nichts zu machen. Pflicht ist Pflicht. Und wenn Sie mich fragen, finde ich eine Beerdigung am Montag auch ein bisschen komisch.« Er schlürfte zufrieden Kaffee und biss kräftig in einen gefüllten Donut. Dann lehnte er sich glücklich seufzend zurück. »Mann, die sind wirklich spitze.«
»Kennen Sie Detective Butts bereits?«, fragte Chuck.
»Nein, wir hatten noch nicht das Vergnügen«, erwiderte Krieger. Lee wusste nicht genau, ob das sarkastisch gemeint war.
»Das ist Detective Elena Krieger«, sagte Chuck zu Butts.
»Elena Krieger?«, wiederholte Butts. » Die Elena Krieger?«
Sie errötete. Vor Ärger, vermutete Lee.
»Sollte es noch eine andere Kollegin meines Namens geben, weiß ich davon jedenfalls nichts.«
»Dann ist das Vergnügen ganz auf meiner Seite«, sagte Butts und schüttelte Krieger kräftig die Hand, bevor er sich wieder über seine Donuts hermachte. Fröhlich kauend hörte er dann zu, wie Chuck die Einzelheiten des Falls zusammenfasste, und vermied es, Krieger noch einmal anzusehen.
»Okay«, sagte Chuck schließlich, nahm Bilder von den Tatorten vom Schreibtisch und verteilte sie. »Die Sache ist einigermaßen dringend. Falls die beiden Todesfälle nämlich miteinander in Zusammenhang stehen, haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun – noch dazu mit einem, der sehr schwer zu fassen sein wird. Bisher ist es uns nicht gelungen, zwischen den beiden Männern irgendeine Verbindung festzustellen, wenn man mal davon absieht, dass es sich bei beiden um offensichtlich fingierte Selbstmorde handelt.«
»Stimmt«, sagte Butts. »Die Familien der Männer haben uns exakt
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