Wehe Dem, Der Gnade Sucht
davon wüsste niemand, aber ich weiß es.«
Ein Klicken, der Fremde hatte aufgelegt. Der Anrufbeantworter spulte die Nachrichten surrend zurück. Doch davon nahm Lee nichts mehr wahr – in Gedanken wiederholte er ständig die monotonen Worte: Das rote Kleid … ich weiß es. Am Tag ihres Verschwindens hatte seine Schwester Laura ein rotes Kleid getragen. Lee bemerkte nicht, wie das heiße Wasser weiter auf den Fußboden lief, sondern stolperte ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob die Nummer des Anrufers angezeigt wurde. Eigentlich machte er sich da keinerlei Hoffnungen. Doch zu seiner Überraschung wurde die Nummer tatsächlich angezeigt – und zwar mit der 212-Vorwahl von Manhattan. Die folgenden Nummern des Anschlusses lauteten 533 – also kam der Anruf aus dem East Village. Mit zitternder Hand griff Lee zum Telefon und wählte. Es klingelte vier Mal, dann meldete sich eine Männerstimme.
»Hallo – entschuldigen Sie bitte, aber könnten Sie mir sagen, wo ich gerade anrufe?«
»Hm, das hier ist eine Telefonzelle zwischen der Third Avenue und der Fifth Street. Wen wollten Sie denn sprechen?« Es war nicht derselbe Mann, der eben angerufen hatte. Die Stimme klang vollkommen anders, und er sprach mit einem deutlichen Akzent aus Brooklyn.
»Oh, da habe ich mich wohl verwählt. Verzeihung.« Lee hatte sich natürlich nicht verwählt. Er legte auf und ließ sich auf den Polstersessel neben dem Telefon sinken. Also hatte der Unbekannte aus einer Telefonzelle angerufen, die nur eine Straßenecke weit entfernt lag.
Tausend Fragen wirbelten Lee durch den Kopf. War der Anrufer mit Absicht in eine Telefonzelle in Lees Gegend gegangen, oder wohnte der Mann hier in der Nachbarschaft? War das alles nur Zufall? Oder gab es dafür möglicherweise noch eine viel erschreckendere Erklärung … verfolgte er Lee heimlich? Beobachtete er ihn? Lees Nummer bekam man nicht über die Auskunft, und sie stand auch nicht im Telefonbuch. Woher hatte der Unbekannte sie dann? Ob es Sinn hatte, die Telefonzelle auf Fingerabdrücke zu überprüfen? Es lag ja kein Verbrechen vor. War es vielleicht trotzdem möglich, eine Spurensicherung zu veranlassen? Oder würde man das in einem solchen Fall für unnötig halten?
Lieber Gott, Campbell, komm wieder runter! Das Verschwinden seiner Schwester war ein nicht enden wollender Albtraum und würde ihn so lange quälen, bis er es eines Tages aufgeklärt hatte – falls ihm das jemals gelingen sollte. Möglicherweise hatte seine Mutter ja doch recht, was Männer anging, und sie waren wirklich alle zu nichts zu gebrauchen …
Nach der ersten Aufregung spürte er, wie seine Stimmung sich veränderte, sich verdunkelte und der vertraute Nebel der Depression ihn wieder einhüllte. Die Wände des Zimmers schienen näher zu rücken, und die Gedanken schwirrten durch Lees Kopf wie ein wütender Bienenschwarm. Er wusste, dass er sofort etwas unternehmen musste, bevor die Depression sich verfestigte und wieder ganz von ihm Besitz ergriff. Dabei hatte er Kathy und seinen Freunden versichert, dass es ihm in letzter Zeit wirklich besser ging. Im Prinzip stimmte das auch. Aber die Depression war wie ein trügerischer Sumpf: Manchmal schaffte er es unbeschadet hindurch, dann wieder reichte ein unbedachter falscher Schritt, und er ging unter.
»Nein, verdammt!« Er quälte sich aus dem Sessel und griff wieder nach dem Telefon. Kathy war in Philadelphia, Chuck hatte noch Dienst, seine Mutter musste er gar nicht erst anrufen, aber es gab dennoch jemanden, an den er sich wenden konnte – hoffentlich erreichte er sie. Er wählte, und die Mailbox sprang an.
»Hallo, dies ist der Anrufbeantworter von Dr. Georgina Williams. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht, ich rufe so schnell wie möglich zurück. Falls es sich um einen Notfall handelt, wählen Sie bitte die Nummer meines Beepers. 917-555-4368. Vielen Dank.«
Lee zögerte. War das hier ein Notfall? Er war nicht selbstmordgefährdet – noch nicht, zumindest. Er sprach auf die Mailbox. Falls Dr. Williams da war, würde sie ihn schnell zurückrufen.
»Hallo, Dr. Williams, Lee Campbell hier. Haben Sie heute vielleicht einen Termin frei? Mir … mir geht es gerade nicht besonders gut. Für einen Rückruf wäre ich dankbar. Auf Wiedersehen.«
Er legte auf und sah sich um. Obwohl er sich so viel Mühe gegeben hatte, hier alles gemütlich einzurichten, kam ihm die Wohnung auf einmal wie ein Gefängnis vor, aus dem es kein Entrinnen gab. All die schönen Dinge
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