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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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haben ein paar Gläser und Besteck mitgenommen wegen der Fingerabdrücke.« Er schaute sich um. »Wirklich traurig – sieht aus, als wäre jemand hier wirklich glücklich gewesen.«
    Butts musterte ihn. »Wie kommen Sie denn darauf?«
    Anderson zeigte auf ein paar noch unbemalte Keramikbecher auf dem Fensterbrett. »Das fällt einem doch sofort auf … sie hat selbst getöpfert, und sehen Sie mal hier.« Er deutete auf ein aufgeschlagenes Kochbuch auf der Arbeitsplatte. Lee kannte es. Es war eines der ersten Biokochbücher auf dem Markt gewesen. Die offenen Seiten waren fleckig – offensichtlich eines von Anas Lieblingsrezepten.
    »Na gut«, sagte Butts. »Also war sie glücklich hier. Hat ihr auch nichts geholfen.«
    Der junge Officer sah seinen Kollegen geschockt an. Doch Lee kannte Butts. Er war nicht kaltherzig, sondern einfach nur wütend über die Ungerechtigkeit dieses Verbrechens.
    »Dann lass ich Sie mal machen«, sagte Anderson und schenkte Butts einen missbilligenden Blick. »Rufen Sie mich, falls Sie Hilfe brauchen.«
    »Danke«, sagte Lee. Anderson ging leise zurück auf seinen Posten vor der Eingangstür. Lee und Butts hörten, wie die Fliegengittertür aufschwang und dann das Kratzen von Stuhlbeinen auf der Veranda. Danach herrschte Stille.
    »Wissen Sie«, sagte Lee, »nicht jeder kennt Sie so gut wie ich. Ich glaube, unser junger Freund hat eben einen ganz falschen Eindruck bekommen.«
    »Mir egal«, grunzte Butts, stapfte hinüber zu einem blauen Keramikfässchen und steckte den Kopf hinein. Sofort begann er zu niesen. »Mehl, verdammt«, schimpfte er angeekelt. Er wischte sich das weiße Pulver von der Nase.
    »Was dachten Sie denn? Kokain vielleicht?«
    Butts ignorierte die Bemerkung und suchte weiter die Küche ab, öffnete Schubladen, hob den Deckel von Töpfen an, kramte sich durch Besteck und Küchenhelfer. Lee setzte sich auf einen der Stühle und schaute ihm eine Weile zu.
    »Okay«, sagte Butts schließlich. »Hier bin ich durch.«
    »Sieht nicht aus wie die Küche einer Selbstmordgefährdeten«, bemerkte Lee.
    »Nee«, stimmte Butts zu. »Überhaupt nicht.«
    Gerade wollten sie hinausgehen, als Lee etwas auffiel, das hinter dem Ofen hing. Es war halb von dessen schwarzem Abzugsrohr verdeckt, sodass Lee näher treten musste, um es sich genau anzusehen.
    Erschrocken erkannte er, dass es ein Grüner Mann war – dasselbe keltische Fabelwesen wie auf Perkins’ Veranda. Der hier war größer, etwas anders modelliert und noch unheimlicher. Das Gesicht wirkte wilder und das Lächeln der Figur bösartig. Aus dem Mund drang ein Gebüsch von Ranken und Dornen, die sich um den Kopf schlangen. Die Figur war offensichtlich handbemalt – vielleicht von derselben Künstlerin, die auch das Keramikgeschirr gefertigt hatte. Lee schaute sich um, ob irgendwo in der Küche Malutensilien herumlagen, entdeckte aber nichts.
    »Noch so ein Grüner Mann?«, fragte Butts und stellte sich hinter Lee.
    »Ja.«
    Butts beugte sich vor und musterte die Figur mit zusammengekniffenen Augen, die dabei fast ganz unter seinen buschigen Brauen zu verschwinden schienen. »Hat sie das Ding gemacht?«
    »Möglich, falls die Becher und Teller auch von ihr stammen. Wir sollten mal nachsehen, ob wir hier irgendwo auf dem Grundstück einen Brennofen finden.«
    »Warum? Halten Sie das für wichtig?«
    »Na ja, ist schon eigenartig, dass Ana und Perkins dieselbe keltische Figur zu Hause haben. Der Grüne Mann ist eher selten.«
    »Okay«, sagte Butts und trottete hinter Lee her ins Wohnzimmer. »Vielleicht hat sie den von Perkins ja selbst gemacht und ihm geschenkt.«
    »Das wäre eine Möglichkeit.«
    Sie entdeckten den Brennofen im Keller, umgeben von unfertigen Tellern und Bechern. Das gesamte Souterrain war in eine kleine Töpferei verwandelt worden – hier standen die Töpferscheibe, der Ton und ein Regal mit Büchern über Töpferei und Keramik. Ana hatte sich ganz offensichtlich ebenso ernsthaft wie leidenschaftlich ihrem neuen Hobby gewidmet. Der Gedanke rührte Lee. Er stellte sich vor, wie Ana an der Drehscheibe gesessen hatte, wie ihre dünnen Hände den Ton formten, während ihr eine blonde Strähne in die Stirn fiel.
    Butts und Lee sahen sich überall um, fanden aber keinen weiteren Grünen Mann. Dafür entdeckten sie auf einem Tisch die noch ungebrannte Figur einer Mutter mit Kind. Die Arbeit stach zwischen all den Bechern und Tellern heraus. Es war ein Stück im Stil des Impressionismus, ganz aus fließenden Linien.

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